Rechtwissenschaftliche Geschlechterstudien beschäftigen sich kritisch mit dem Verhältnis von Recht als wirkmächtigem Herrschaftsinstrument und Geschlecht. Wie konzeptualisiert Recht Geschlecht und wie beeinflusst Recht die Geschlechterordnung? Wie ist das Recht selbst durch spezifische Ideen von Geschlecht geprägt? Im Fokus feministisch inspirierter Rechtsforschung stehen daneben weitere Diskriminierungsdimensionen wie Ethnizität, Klasse, Alter oder Gesundheit. Intersektionale Analysen nehmen die wechselseitige Abhängigkeit und die Verwobenheit dieser Ungleichheit erzeugenden Differenzlinien in den Blick.
Bedeutsam für den Kontext von Recht, Differenz und Ungleichheit sind Analysefelder wie Erwerbsarbeit, Care, Reproduktion und Familie, Geschlechtsidentität und Sexualität, Gewalt, Flucht und Migration. Wie werden Machtungleichheiten, Exklusionen und ungleiche Ressourcenverteilung durch das Recht und die Rechtspraxis (re)produziert? Angesichts des dem Recht innewohnenden emanzipatorischen Potentials ist damit auch immer die Frage verbunden, wie Recht diese abbauen und überwinden kann.
Dr. Anja Böning studierte Rechtswissenschaft, Erziehungswissenschaft und Soziologie in Marburg und Bochum. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Ungleichheitsforschung, Antidiskriminierung, Legal Gender Studies und Rechtssoziologie. Sie ist derzeit Professurvertreterin am Lehrstuhl für Gender im Recht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der FernUniversität in Hagen.
Mit der Einführung der dritten Option "divers" im Personenstandsrecht ist viel Bewegung in die Anerkennung nicht-binärer Menschen gekommen. Auch der Zugang zu Vornamens- und Personenstandsänderungen binärer trans* und intergeschlechtlicher Männer und Frauen schien sich zwischenzeitlich deutlich zu verbessern. Dem setzte ein mehr als rückschrittliches, sprachlich wie inhaltlich herabwürdigendes Urteil des Bundesgerichtshof ein jähes Ende. Doch Hoffnung speist sich aus einer im Juni 2020 erhobenen Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht und der andauernden Debatte für mehr Selbstbestimmung bei der Änderung des Geschlechtseintrags.
Der erste Input von Friederike Boll fasst die rechtlichen Geschehnisse für alle verständlich zusammen und gibt auch Ausblicke auf angrenzende Rechtsfragen mit aktuellen Urteilen wie zum Anspruch auf korrekte Geschlechtsanrede beim Online-Shopping und den Elternrechten von trans* Personen. In einem weiteren Input gibt Kalle Hümpfner Einblick in die aktuelle politische Auseinandersetzung um eine Reform im Personenstandsrecht und führt aus, was mit der Forderung nach geschlechtlicher Selbstbestimmung gemeint ist.
Friederike Boll, Rechtsanwältin für Arbeitsrecht und Anti-Diskriminierungsrecht in Frankfurt am Main und Wuppertal, hat kritisch Rechtswissenschaften in Frankfurt und Wien studiert und sich seither im queeren Personenstandsrecht engagiert. Sie war beteiligt an der Verfassungsbeschwerde für eine Dritte Option und an der Aktion Standesamt 2018. Heute vertritt sie unter anderem queere Menschen, die für richtige Geschlechts- und Namenseintragungen in ihren Unterlagen kämpfen oder sich gegen andere (Alltags)Diskriminierungen wehren. Kalle Hümpfner (keine Pronomen) arbeitet beim Bundesverband Trans* als gesellschaftspolitische_r Referent_in und begleitet in diesem Rahmen aktuelle Gesetzgebungsverfahren, die die Rechte von trans* Personen betreffen. In der Vergangenheit war Kalle Teil der Kampagne „Aktion Standesamt 2018“, die sich für den selbstbestimmten Geschlechtseintrag einsetzte. Kalle studierte an der Queen’s University Belfast Politische Psychologie (M.Sc.), ist nicht-binär trans* und lebt in Berlin.“
Über Femizide, das heißt geschlechtsspezifische Tötungen von Frauen, wird zunehmend auch in Deutschland gesprochen, vor allem in den Medien und in der Forschung, aber nur wenig im Kontext des Strafrechts – sei es im Diskurs oder in der Rechtsanwendung. Doch welche Taten werden mit dem Begriff bezeichnet? Und welche Rolle spielen Femizide überhaupt in Deutschland? Welche Merkmale weisen Femizide auf und sollte sich auch das Strafrecht mit diesen auseinandersetzen? Im Vortrag von Julia Habermann werden diese Fragen beantwortet und weitere Aspekte beleuchtet. Im Anschluss gibt es Raum für weitere Fragen und Diskussion.
Julia Habermann (M.A.) studierte Sozialwissenschaften in Gießen und Marburg. Sie arbeitet seit mehreren Jahren zum Thema Gewalt gegen Frauen. Aktuell ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum und verfasst ihre empirische Dissertation zur Sanktionierung von Femiziden.
Gleichgeschlechtliche Paare können seit 2017 die Ehe schließen. Seit 2018 anerkennt das Recht Personen, die sich jenseits der zweigeschlechtlichen Norm verorten, mit dem Geschlechtseintrag „divers“. Das Abstammungsrecht blieb von beiden Gesetzesänderungen unberührt. Für Kinder, die in sog. Regenbogenfamilien hineingeboren werden, führt dies zu einer prekären Situation der rechtlichen Unsicherheit. Obwohl es in den betroffenen Familien regelmäßig zwei Personen gibt, die von Geburt an die elterliche Verantwortung übernehmen, hat das Kind nur einen rechtlichen Elternteil. Das hat weitreichende Auswirkungen: vom Unterhalts- und Sorgerecht über Erb- und Pflichtteilsansprüche bis hin zum Namensrecht und der Staatsangehörigkeit des Kindes.
Um das Kind beider Eltern zu werden, müssen die Familien bislang ein Verfahren der sog. Stiefkindadoption durchlaufen. Damit verbunden ist eine umfassende Begutachtung der Familie im Hinblick auf finanzielle, gesundheitliche und soziale Eignung sowie eine gerichtliche und behördliche Prozedur, die die betroffenen Familien als willkürlich und diskriminierend erleben.
Die Referentin Lucy Chebout ist Rechtanwältin in Berlin und vertritt mehrere Familien bei strategischen Klagen zum Thema (#PaulaHatZweiMamas und #Nodoption). In zwei dieser Fälle haben jüngst das Oberlandesgericht Celle und das Berliner Kammergericht dem Bundesverfassungsgericht konkrete Normenkontrollanträge vorgelegt. Der Vortrag beleuchtet anhand der strategischen Verfahren die familienrechtlichen Grundlagen sowie die verfassungsrechtlichen Dimensionen des Abstammungsrechts.
Der Gender Care Gap bezeichnet die Lücke im Zeitaufwand für unbezahlte Sorgearbeit zwischen Frauen und Männern. Zu der Sorgearbeit zählen u. A. Kindererziehung, Pflege von Angehörigen oder Haushaltsarbeit. Frauen wenden pro Tag im Durchschnitt über 50% mehr Zeit für diese unbezahlten Arbeiten auf als Männer. Gerade im Zuge der Corona-Krise ist dieses Thema aufgrund von Homeoffice und Homeschooling medial sehr präsent. Diskutiert wird mit den Referentinnen über Sorgearbeit in ihren verschiedenen Formen sowie konkrete Gründe für den Gender Care Cap. Wer ist wie betroffen? Was sind aktuelle Entwicklungen? Welche Lösungsansätze gibt es? Und wie kann die Debatte intersektional gedacht werden?
Nach § 219a StGB macht sich strafbar, wer öffentlich die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs „bewirbt“. Bis zur Reform vor zwei Jahren fiel schon der bloße Hinweis von Ärzt:innen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, darunter. Verboten ist aktuell noch immer u.a. das öffentliche Zurverfügungstellen weitergehender medizinischer Informationen. Besonders verurteilte Ärzt:innen, wie Kristina Hänel, die im Januar bis vor das BVerfG zog, machten jüngst auf die lange bestehende Problematik aufmerksam.
Für und mit uns informieren und diskutieren Prof. Dr. Monika Frommel (Uni Kiel) und Dorothee Kleinschmidt (ProFamilia Bochum) über den umstrittenen § 219a StGB.
Prof. Dr. Frommel war 1988 bis 1992 Professorin für Rechtsphilosophie und Strafrecht an der Universität Frankfurt a.M., und später bis zu ihrer Emeritierung 2011 Direktorin des Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie kommentiert das Sexualstrafrecht im Nomos-Kommentar zum StGB, ist Mitherausgeberin der Neuen Kriminalpolitik, sowie Beiratsmitglied der Kritischen Justiz und Humanistischen Union.
Dorothee Kleinschmidt ist Ärztin und Familientherapeutin. Sie arbeitet seit vielen Jahren in den Bereichen Verhütung, Pränataldiagnostik, Kinderwunsch und Schwangerschafts(konflikt)beratung in der pro familia Beratungsstelle Bochum. Derzeit versucht sie zusammen mit einer Arbeitsgruppe die Versorgungssituation im Bereich Schwangerschaftsabbruch in Bochum zu verbessern. Sie engagiert sich für den kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln und den straffreien Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch.
Art. 3 Abs. 3 GG verbietet Diskriminierung u.a. aufgrund des Geschlechts, der Herkunft, des Glaubens oder einer Behinderung. Inwiefern braucht es eine intersektionale Perspektive auf das Recht? Wie kann Rechtswissenschaft feministisch und antirassistisch gedacht werden, und was bedeutet dies für den juristischen Alltag, auch an der Uni?
Dazu diskutieren wir mit:
Dr. Doris Liebscher, Juristin aus Berlin. Sie hat zum Begriff der "Rasse", Rassismus und Recht promoviert und viele Jahre in der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte gearbeitet. Heute leitet sie die Ombudsstelle für das Berliner Landesanti- diskriminierungsgesetz.
Und Menina Morenike & Marlena Onochie, Mitglieder der "Black, Indigenous & Jurastudierende of Colour"-Hochschulgruppe aus Berlin und Brandenburg. Das Ziel der Gruppe ist es, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem sich die Mitglieder macht- und rassismuskritisch austauschen, vernetzen und organisieren können.