von Lisa Pingel und Laila Abdul-Rahman
Feministische Rechtstheorie - was ist das und inwieweit hat Feminismus überhaupt etwas mit Recht zu tun?
Um diese Frage beantworten zu können, ist es zunächst wichtig zu verstehen, was Feminismus überhaupt bedeutet. Feminismus im ursprünglichen Sinne bezeichnet eine Bewegung, die sich zum einen für Maßnahmen einsetzt, um die Lebensumstände von Frauen[1] zu verbessern und sich zum anderen wissenschaftlich mit Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts auseinandersetzt, um diese zu überwinden.[2] Tauchte der Begriff zum ersten Mal im Jahre 1872 auf und hatte hauptsächlich zum Ziel, Frauen auf dieselbe Stufe wie Männer zu stellen[3], so sind die Ausprägungen des Feminismus heutzutage so vielfältig und individuell, wie es Feminist*innen gibt. Hervorzuheben ist die (Weiter-)Entwicklung des Genderbegriffs, welcher das Geschlecht eines Menschen als soziale Kategorie versteht, die über das biologische Geschlecht hinausgeht. Insofern kann sich die Geschlechtsidentität (engl. „Gender“) auch vom biologischen Geschlecht (engl. „sex“) unterscheiden.[4] Feminismus, so wie er hier verstanden wird, bezieht sich deshalb nicht nur auf Personen, die von Geburt an weiblichen Geschlechts sind (sog. Cis-Frauen), sondern schließt ebenso trans- und intersexuelle sowie genderqueere[5] Personen ein. Diese Diversität soll in der Sprache mit dem Genderstern verdeutlicht werden: Feminist*innen.[6] Selbstverständlich können sich auch Männer als Feminist*innen verstehen und sich entsprechend für Gendergerechtigkeit einsetzen.
Ein weiterer zentraler Punkt ist heute die Einnahme einer intersektionalen Perspektive. Intersektionalität bedeutet, dass eine Person Diskriminierungserfahrungen nicht nur aufgrund eines Merkmals (z.B. des Geschlechts) macht, sondern verschiedene weitere Erfahrungen (z.B. Diskriminierung aufgrund der Herkunft, der Religion, der sexuellen Orientierung …) damit verschränkt sind. Diese Diskriminierungsformen können dabei nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern überkreuzen sich (das englische Wort „intersection“ bedeutet Kreuzung oder Überschneidung). Dadurch entstehen individuell verschiedene Diskriminierungserfahrungen, die nicht allein durch die Betrachtung eines Merkmals, sondern in ihrem Zusammenwirken analysiert werden müssen. [7] Der intersektionale Feminismus berücksichtigt also vielfältige Ungleichbehandlungsaspekte und geht dabei über den reinen Anknüpfungspunkt an das Geschlecht hinaus. Dieses Verständnis kommt aus dem Schwarzen Feminismus, der Begriff stammt von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw.[8] Bereits im 19. Jahrhundert hatte die Schwarze Frauenrechtlerin Sojourner Truth kritisiert, dass die (weiße) Frauenbewegung die besondere Benachteiligung Schwarzer Frauen ignoriere. Ihr Ausspruch „Ain’t I a Woman?“ wurde zum viel zitierten Sinnbild dafür, dass nicht alle Frauen gleichermaßen Benachteiligung erfahren und auch nicht in gleichem Maße von erkämpften Rechten profitieren. So wird heutzutage z.B. kritisiert, dass die Entlastung von Frauen und nicht-binären Personen der Oberschicht nicht etwa auf die stärkere Einbindung von Männern in die Haus- und Sorgearbeit zurückzuführen ist, sondern nur verlagert wurde auf andere Frauen und nicht-binäre Personen (z.B. Reinigungs- oder Pflegekräfte), die überwiegend schlecht bezahlt werden, aus dem Ausland kommen und/oder People of Color sind.
Mit Blick auf das Recht unserer Zeit sind Frauen, vor allem in der westlichen Welt, in der Regel den Männern gleichgestellt - zumindest auf dem Papier. So haben sie seit der Wahlrechtsreform von 1918 in Deutschland das Recht zu wählen[9], seit 1976 das Recht ohne Erlaubnis des Ehemanns arbeiten zu dürfen[10] und es ist im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz normiert, dass Frauen bei gleichem Job und gleicher Position dasselbe Gehalt zusteht, wie auch Männern[11]. Dennoch zeigen Studien, dass erwerbstätige Frauen im Vergleich zu Männern immer noch weniger verdienen (sog. Gender Pay Gap)[12] und somit eine praktische Gleichberechtigung auf diesem Gebiet noch nicht erzielt werden konnte.
Dies zeigt dabei nur eine von vielen aktuellen Relevanzen des Feminismus auf. Es bleibt festzuhalten, dass sich die ursprünglichen Erwartungshaltungen an den Feminismus weiterentwickelt haben und auch die praktische Ausübung einem ständigen Wandel unterliegt. Dieser Wandel wird, wie oben aufgezeigt, nicht zuletzt durch die geltenden Normen und Gesetze beeinflusst. Festzustellen ist, dass die Anwendung des bestehenden Rechts einen immensen Einfluss auf das Leben gesellschaftlicher Gruppen und auch auf das Leben des*der Einzelnen haben kann. Dabei prägt das Recht die Gesellschaft, gesellschaftliche Dynamiken prägen aber ebenso das Recht und seine Anwendung - nicht zuletzt dadurch, dass Rechte eingefordert und erkämpft werden. Missstände und Leerstellen im Recht müssen jedoch erst einmal sichtbar gemacht werden. Aus diesen Gründen hat sich die feministische Rechtstheorie entwickelt. Sie analysiert den Inhalt des geltenden Rechts, sowie dessen Auslegung und Anwendung aus einem kritischen Blickwinkel und das in Bezug auf alle Rechtsbereiche.[13]
Die Anfänge der feministischen Rechtstheorie fanden sich in der Kritik am Wortlaut herrschender Gesetze. So verfasste die Französin Olympe de Gouges im Jahre 1791 die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“, die als Protest gegen die Männer-Privilegien, welche zeitgleich Verfassungsrang erhielten, zu verstehen war. Sie stellte in diesem Verfassungsentwurf die Frauenrechte denen der Männer gleich. Weiterhin erklärte sie die geltende Verfassung für nichtig, da an ihrer Ausarbeitung die Mehrheit der Bevölkerung (Frauen) nicht mitgearbeitet habe.[14]
Im Gegensatz zu dieser Zeit liegen heute, wie oben bereits festgestellt, Ungleichbehandlungen in der Regel nicht mehr in der direkten Wortlautanknüpfung an das Merkmal des Geschlechts.[15] Dazu entschied auch schon das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1953, dass aufgrund von Art. 3 Abs. II S. 1 GG eine formelle Unterscheidung aufgrund des Geschlechts unzulässig sei.[16] Damit wurde das formelle Differenzierungsverbot geprägt. In den folgenden Jahren entwickelte sich dieses formell zu verstehende Differenzierungsverbot jedoch stetig weiter in Richtung eines auch materiell zu verstehenden Verbotes. Demnach kommt es nicht nur darauf an, ob das Merkmal Geschlecht ausdrücklich verwendet wird, sondern vielmehr auf die tatsächlichen Auswirkungen einzelner Normen. Dies erkannte schließlich auch der Gesetzgeber, sodass Art. 3 Abs. II S. 2 GG hinzugefügt wurde, welcher eine tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung garantieren soll.[17]
Dennoch gibt es weiterhin viele patriarchalisch geprägte Vorschriften, aufgrund derer unser gesellschaftliches Zusammenleben beeinflusst wird. Auch die wörtliche Anknüpfung des Art. 3 Abs. II GG an das binäre Geschlechterkonzept wirft, vor allem unter Berücksichtigung des § 22 Abs. III PStG (Eintragung des diversen Geschlechts in das Geburtenregister), weitere Fragen in Hinblick auf Geschlechterdiskriminierung auf.
All dies sind Teilaspekte, die im Rahmen der feministische Rechtstheorie untersucht werden können, um auch auf dem Gebiet der Juristerei eine Sensibilität für solcherlei Themen zu schaffen. Dann sind kommende Jurist*innen vielleicht in der Lage, die Rechtsprechung ein Stück weit gender-gerechter zu prägen.[18]
[1] Mit dem Begriff „Frauen“ sind hier alle Personen gemeint, die sich mit dem weiblichen Geschlecht identifizieren.
[2] Vgl. https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/17484/feminismus, Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 7., aktual. u. erw. Aufl. Bonn: Dietz 2018. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
[3] Karen Offen: On the French origin of the words feminism and feminist. Juni 1988
[4] Geimer, Alexander (2013). Sex-Gender-Differenz. In Gender Glossar / Gender Glossary (3 Absätze). Verfügbar unter http://gender-glossar.de
[5] Personen, die sich nicht einem der binären Geschlechter (Mann/Frau) zuordnen, vgl. z.B. https://www.lilli.ch/genderqueer.
[6] Siehe zum Thema Gendersternchen: https://missy-magazine.de/blog/2018/05/11/stars-und-sternchen/
[8] Crenshaw, K. (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, University of Chicago Legal Forum, S. 139–167.
[9] vgl. § 2 Verordnung über die Wahlen zur verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung (Reichswahlgesetz) vom 30. November 1918.
[10] vgl. Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG), indem erstmals keine benötigte Erlaubnis zur Arbeit durch den Ehemann vorausgesetzt wird.
[11] Abzuleiten aus §§ 1, 2 Abs. I Nr. 2 AGG.
[12] https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/gender-pay-gap.html, https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/LEE_2.pdf
[13] Ute Sacksofsky. Was ist feministische Rechtstheorie? In: Zeitschrift für Rechtspolitik, Heft 9/ 2001, S. 412
[15] Eine Ausnahme bildet hier das Familienrecht, wo durch die Definitionen der Begriffe Mutter und Vater Schwierigkeiten für Transpersonen und Eltern innerhalb gleichgeschlechtlicher Ehen entstehen. Vgl. z.B. § 1592 Nr. 1 BGB, wonach automatisch Vater ist, wer bei der Geburt des Kindes mit der Mutter verheiratet ist – innerhalb einer lesbischen Ehe müsste die nicht-biologische Mutter das Kind zur Anerkennung der Elternschaft erst adoptieren.
[16] BVerfGE 3, 225, 240.
[18] Vgl. dazu Ute Gerhard. Von der Frauenbewegung zur feministischen Rechtswissenschaft - Wegmarken und Diskussionen. In: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Vol. 92, Nr. 2/ 2009, S. 163.