Political and economic transformations in the Indian Ocean World as reflected in the letters to the ʿAbriyin of al-Hamraʾ (Oman) during the long 19th century
Das 2021 gestartete DFG-geförderte Forschungsprojekt „Letters to the Sheikh” widmet sich der Sozial-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte Zentral-Omans vor, während und nach der Hochphase Omans als maritimer Macht. Grundlage der Untersuchung bildet die kombinierte serielle und qualitative Analyse einer Auswahl von Texten aus dem Archiv der ʿAbriyin-Scheichs von al-Hamraʾ. Darauf aufbauende Einzelstudien beschäftigen sich mit sozialen und politischen Netzwerken, ökonomischen Beziehungen und Historischer Semantik.
Die Erschließung des Archivs der ʿAbriyin-Scheichs ist in mehreren Etappen erfolgt. Entdeckt wurden die ca. 6.000 Dokumente in den Jahren 2000 und 2002 im Rahmen des von der DFG geförderten interdisziplinären Projektes „Transformation Processes in Oasis Settlements of Oman“ (1999–2007). Fundort war ein Haus im alten Zentrum der Oasenstadt al-Ḥamrāʾ (s. Abb. 1 und 2; klicken Sie auf die Abbildungen um sie zu vergrößern). Seit seiner Erbauung Ende des 17. Jahrhunderts ist das Haus Sitz der Stammesführer (Scheichs) der ʿAbrīyīn, einer bedeutenden tribalen Gruppe in Oman.
Der Dokumentenkorpus besteht zum überwiegenden Teil aus Briefen (s. Abb. 3), die an den jeweils amtierenden Scheich gerichtet sind. In Form und Inhalt gleichen die Schriftstücke Kanzleidokumenten, was darauf schließen lässt, dass es sich um eine Art Archiv der ʿAbrīyīn-Scheichs handelt. Insgesamt umfasst der Bestand mehrere Tausend Schriftstücke aus einem Zeitraum von rund 175 Jahren, von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dieses Archiv stellt in vielerlei Hinsicht einen einzigartigen Dokumentenbestand dar. Zu seinen herausragenden Merkmalen zählen neben Umfang und Geschlossenheit des Korpus vor allem seine Provenienz, der Süden der Arabischen Halbinsel. Dokumentenkorpora dieser Art sind aus dieser Region ansonsten bislang nicht bekannt.
Ein Teil der Dokumente wurde im Kontext der Dissertation von Michaela Hoffmann-Ruf „Scheich Muḥsin bin Zahrān al-ʿAbrī. Tribale Macht im Oman des 19. Jahrhunderts“ (Berlin 2008) ausgewertet. Eine umfassende, systematische Erfassung und inhaltliche Erschließung des Gesamtbestandes mit modernen digitalen Methoden war lange Zeit jedoch nicht möglich.
Ein Pilotprojekt in dieser Richtung stellt das im Sommersemester 2016 von Johann Büssow und Michaela Hoffmann-Ruf an der Abteilung für Orient- und Islamwissenschaft der Universität Tübingen durchgeführte Seminar „Kommunikations-Netzwerke im Oman des 19. Jh.“ dar. Mit technischer und konzeptioneller Unterstützung durch zwei Mitarbeiter des eScience-Centers Tübingen, wurde mit der Entwicklung einer Datenbank zur digitalen Erfassung der Dokumente begonnen. Diese war zum einen als Basis der späteren Analyse gedacht, zum anderen zur Langzeitarchivierung der Dokumente als Teil des kulturellen Erbes von Oman. Zusammen mit Studierenden wurde nach Kriterien für die Erfassung der Dokumente und nach Lösungen für die im Laufe der Bearbeitung anfallenden Fragen und Probleme gesucht. Die Software für die webbasierte Eingabe, Bearbeitung und Analyse der Daten wurde im Rahmen dieses Seminars am eScience-Center entwickelt und steht Entwicklern als freie Software zur Verfügung.
Bei der Aufnahme in die Datenbank stand an erster Stelle die Erfassung der Metadaten, v.a. Signatur, Datum, Adressat und Absender. Den folgenden Schritt bildete die Erfassung sekundärer Daten wie z.B. Personen und Orte, die in dem Brief erwähnt werden, sowie eine schlagwortartige Erfassung des Inhalts. Als Beispiel zeigt Abb. 4 einen Brief von Sayyid Saʿīd b. Sulṭān al-Būsaʿīdī an die ʿAbrīyīn, und Abb. 5 zeigt die Erfassungsmaske für die Daten dieses Briefs.
Die Struktur der Datenbank ermöglichte es, die so gewonnenen Daten um weiterführende Informationen aus anderen Quellen und Sekundärliteratur zu ergänzen. Beispielsweise können die Personennamen um biographische Informationen erweitert und den Ortsnamen die entsprechenden Geokoordinaten zugeordnet werden. Diese erlauben einen ersten Einblick in die sozialen und politischen Netzwerke, in welche die beteiligten Personen eingebunden waren. Geokoordinaten ermöglichen zudem eine Darstellung der regionalen Verflechtungen (s. Abb. 6).
Das Ziel der Erfassung und Erschließung ist es, einen möglichst umfassenden Überblick über die Kommunikationsstrukturen und damit über die politischen, sozialen und ökonomischen Netzwerke der Beteiligten zu erlangen. Um entsprechende Analysen durchzuführen, bietet die Datenbankanwendung Abfragemöglichkeiten und erlaubt es, die Abfrageergebnisse unterschiedlich zu visualisieren, z.B. als Tabelle, Zeitleiste, geographische Karte oder als Netzwerkgraph. Abb. 7 beispielsweise zeigt den in Abb. 4 dargestellten Brief mit Signatur D6-28 mittig in einem Kommunikationsnetzwerk aus Personen und Briefen. Betrachter können Ausschnitte dieses Netzwerks vergrößern und durch Doppelklick auf ein Objekt (z.B. einen Brief, eine Person, eine Personengruppe) in die Detail- und Bearbeitungsansicht für die zugrunde liegenden Daten wechseln.
Eine weitere Möglichkeit die Kommunikationsstrukturen zu visualisieren, ist das Erstellen eines sozialen Netzwerks von Personen, die Briefe versendet oder empfangen haben. So können mittels sozialer Netzwerkanalyse die wichtigsten Persönlichkeiten und Subnetzwerke identifiziert werden. Abb. 8 zeigt beispielsweise einen Ausschnitt dieses sozialen Netzwerks, wobei die Stärke der Kanten jeweils ansteigt mit der Anzahl der Briefe, die zwischen dem Personenpaar ausgetauscht wurde.
Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojektes “Siedlung und Gesellschaft im vormodernen Oman”, das von 2017 bis 2018 an der Universität Tübingen durchgeführt wurde, erfolgte die vollständige digitale Erfassung der restlichen Dokumente. Hierzu wurden die bislang nur in Tabellen erfassten Meta-Daten zunächst vereinheitlicht und in die Datenbank überführt.
Im Hinblick auf unser Ziel, die gewonnenen Forschungsdaten nachhaltig und langfristig zu sichern und zur weiteren wissenschaftlichen Nutzung bereitzustellen, sollen die Daten der Dokumente aus al-Hamraʾ mittelfristig in das an der Staatsbibliothek Berlin entwickelte Internet-Portal „Qalamos: connecting manuscript traditions“ (www.qalamos.net) überführt werden.