Wie schreibt man eigentlich die Ideengeschichte der Bundesrepublik?
Abstract
Der Bundesrepublik haftete lange Zeit ein Ruf von Ideenarmut an. Gerade im Vergleich mit der ersten deutschen Republik von Weimar erschien die Bonner Nachfolgerin auch in dieser Hinsicht recht langweilig und unspektakulär. Wenngleich sie über viele Jahre hinweg einen Platz im Schatten des geistesgeschichtlichen Interesses sicher hatte, wurde auch sie von dem Aufschwung einer Intellectual History in jüngster Zeit erfasst. An weit ausgreifenden monografischen Darstellungen mit umfassendem Deutungsanspruch mangelt es indes weiterhin, gleich wie oft die Bundesrepublik von manchem Autor auch schon intellektuell neu-, um- und zweitbegründet worden ist. Statt das Spiel der Zäsursetzungen und einzelnen Gründungsakte weiterzuverfolgen, skizziert dieser Vortrag den Prozess einer im Fluss begriffenen „langen“ intellektuellen Gründungsgeschichte. Er nimmt seinen Ausgang bei einem Weimarer Traditionsüberhang, nämlich der hartnäckigen Revolutionssehnsucht der Intellektuellen, bevor er deren im Wandel begriffenen Antworten drei für die bundesrepublikanische Entwicklung wichtige Fragen nachzeichnet: erstens auf die Verfassungsfrage, zweitens die nationale Frage und drittens schließlich die eigentliche „deutsche Frage“, so wie sie Ralf Dahrendorf Mitte der 1960er Jahre als jene nach dem richtigen Maß von Demokratie und Demokratisierung in der Gesellschaft aufwarf. Weit davon entfernt, das Forschungsdesiderat einer Ideengeschichte der Bundesrepublik beheben zu können, werden abschließend aus der Erörterung der Fragenkomplexe drei Grundtendenzen herausdestilliert, und zwar zu einer strukturellen Dimension, die den Typus des Intellektuellen selbst in den Blick nimmt, zu einer modalen Dimension, die Fragen der Diskussionskultur betrifft, und zu einer inhaltlichen Dimension, die Anspruch und Radikalität der „intellektuellen“ (System-)Kritik in der zweiten deutschen Demokratie zu taxieren sucht.