Aus dem Alltag der Revolution
Geschichten aus Deutschland - Ost und West 1989/90
Woche des 19. März 1990
Wer die Wahl hat...
Von Heuschreckenschwärmen, Ko(h)lonien
und Fernsehpiraten
Diese Woche steht natürlich ganz im Zeichen der ersten
freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990, bei der insgesamt
24 Parteien und Vereinigungen zur Wahl stehen. Die Neue Zeit
frohlockt: „Endlich echter Wettstreit um die Stimmen des
Wählers“ (NZ 14.3.1990). Die Berliner Zeitung gibt in dem
Artikel „Personalausweis zur Wahl nicht vergessen“ (BZ
14.3.1990) Handlungsanweisungen für die – ob der so
plötzlich gewonnenen (Wahl-)Freiheiten vielleicht doch noch
etwas überforderten – wahlberechtigten Bürger. Auch Neues
Deutschland mahnt „Gültig nur mit einem Kreuz“ (ND
14.3.1990). Trotz der allgemeinen Vorfreude sind auch
reichlich kritische Stimmen zu vernehmen: […] „Ko(h)lonie
der BRD?“ (ND 14.3.1990).
Woche des 12. März 1990
Wahlkampf, Messerekord und Gold im Keller
Ende und drohender Ausverkauf
Inzwischen geht der Wahlkampf in der DDR in seine heiße
Phase: „Wahlkampfmatadoren sind vom Morgen bis in die Nacht
unterwegs" (BZ 15.3.1990). Der Kampf scheint allerdings
alles andere als friedlich zu verlaufen. Der Spiegel
(11/1990) bringt es auf den Punkt, es handelt sich eher um
eine „schmutzige Wahlschlacht": „zerstochene Autoreifen,
eingeschlagene Scheiben von Parteibüros - Kampf total vor
der ersten freien Wahl in der Geschichte der DDR". Dazu
entsteht noch der Verdacht, dass Wolfgang Schnur, Chef des
Demokratischen Aufbruchs, jahrelang Spitzel der Stasi
gewesen sein soll (ebd.). […] In der wirtschaftlichen
Annäherung werden nun Nägel mit Köpfen gemacht: In Leipzig
lockt ab dem 13. März die Frühjahrsmesse. Die Erwartungen
sind so groß, dass bereits am Tag des Messebeginns die
Vertreter der EG und der DDR ein Abkommen über Handel und
wirtschaftliche Zusammenarbeit in Brüssel paraphieren. […]
Zum guten Schluss der Woche hat die Kommerzielle
Koordinierung („KoKo“), so kommt jetzt ans Licht, 21 Tonnen
Geld in ihren „Kellern" gelagert, wie die Berliner Zeitung
lakonisch vermerkt. Was für eine tolle Nachricht! Das kann „der
DDR-Zahlungsbilanz“ nur zugutekommen. Vor-ausgesetzt der
Fund wird zugunsten des Staates verwendet.
Woche des 5. März 1990
Ein Hauch von Frühling
… mitten im Winter – und der Wahlkampf
schlägt Kapriolen
Als die sächsische Rennrodlerin Gabriele Kohlisch sich am
vergangen Sonnabend in Calgary gegen ihre russische
Kontrahentin Julia Antipowa durchgesetzt und für die DDR „zum
sechsten Male in Folge den Titel“ einer Weltmeisterin im
Rennschlittenfahren gewonnen hatte, dürfte ihr vor Freude
heiß und kalt geworden sein. Aber bestimmt wusste sie nicht,
dass auch in der DDR mitten im Winter ein „Hauch von
Frühling“ herrschte. […] Doch das milde Hochdruckgebiet
reichte nicht einmal „nunter nach Bulgarchen“: Sowohl am
Schwarzen Meer als auch in der Levante war es „kälter“ als
im Ostseeraum, ganz im Gegensatz zum politischen Klima. […]
Gar nicht schweigsam ging es beim PDS Parteitag am
vergangenen Wochenende zu. Zehntausende nutzten dies, um am
Berliner Lustgarten gegen „Sozialabbau“ und „für eine
souveräne DDR im Vereinigungsprozess“ zu demonstrieren. Aber
auch für ein wenig Selbstironie (?) hatten die gewendeten
Sozialisten Mut: „Vor dem Haupteingang der Tagungsstätte
steht ein kleiner, in Granit geschlagener Marxkopf. Mit ihm
verbindet sich ein Vers, der jahrelang unter
Parteihochschülern die Runde machte: Ich wünscht‘ ich wär‘
Karl Marx — das wäre wirklich fein. Ich könnte vor der
Schule stehn und brauchte nicht hinein.“ Hausverbot für Karl
Marx? Ist die PDS wurzellos?
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