Aus dem Alltag der Revolution
Geschichten aus Deutschland - Ost und West 1989/90
Archiv
Februar 1990
Woche des 26.
Februar 1990
Karneval im Rathaus?
Karnevalskater, Body Painting, Lambada
und mehr
Am Freitag, 23. Februar 1990, klappte zwar noch die Wahl von
Christian Hartenhauer zum neuen Oberbürgermeister von Ost-Berlin,
nachmittags allerdings musste die Fortsetzung der Sitzung
wegen fehlender Beschlussfähigkeit abgebrochen werden. Die
Berliner Zeitung bringt es jahreszeitlich spöttisch auf den
Begriff: „Karneval im Rathaus?“ (BZ 24.2.1990). Vielleicht
waren einige Volksvertreter nur etwas indisponiert am Tag
nach Weiberfastnacht? Da hätte die Neue Zeit ihre
entsprechenden Tipps „Gegen Karnevalskater“ vielleicht doch
besser schon im Vorfeld verbreiten sollen, denn am Tag
danach kamen sie offenbar zu spät […] Auch abseits der
Hauptstadt, in der beschaulichen Kleinstadt Premnitz an der
Havel, das ganz bald schon wieder im Land Brandenburg liegen
sollte, wurde 1990 natürlich Karneval gefeiert. In einer
Büttenrede des dortigen Premnitzer Carneval Clubs wurde an
das für 1989 ausgerufene „Jahr des Fußgängers“ erinnert,
denn unter dieses Motto war die Verkehrserziehung der DDR
1989 gestellt worden (BZ 2.1.1989): „Sicherheit für
Fußgänger im Straßenverkehr“ (ND 14.1.1989). Klar, dass die
Karnevalisten das Fußgängermotiv für 1989 hin und her wenden
konnten.
Woche des 19.
Februar 1990
„Kunst, die aus Verantwortung vor
der Menschheit wächst“...
… und was Sie wert ist
Vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden
Einigungsprozesses begannen auch west- und
ostdeutsche Intellektuelle und Künstler sich
zunehmend auszutauschen. Als Plattformen
dienten Veranstaltungen wie die Berlinale.
Denn gerade „Filmen aus der DDR gilt während
dieses 40. Internationalen Festivals
angesichts der politischen Veränderungen
besondere Aufmerksamkeit“. (ND 12.2.1990)
Auch beim Fest des Politischen Liedes war
ein breites Spektrum an Künstlern vertreten.
Dabei war die Bandbreite so gewaltig, dass
diverse ostdeutsche Prominente ihre
Teilnahme absagten, da vor Ort eine „ungenügende
Präsentation der DDR-Liedermacher“ gegeben
sei, was das überwiegend junge Publikum aber
nicht weiter störte. (BZ 12.2.1990) Auch von
Seite des P.E.N. Zentrums der DDR warnte man
vor einem kulturellen Abbau und einer
ökonomischen Schieflage der
Kulturbetreibenden: „Hüten wir uns, das im
Laufe vieler Jahre im Lande organisch
Gewachsene wegzuwerfen.“ (ND 12.2.1990) Aber
wie konserviert man die Kunst und ihren
Wert?
Woche des 12.
Februar 1990
Eine Pro- und Contra-Liste
Die Hoffnung auf
Vereinigung: eine Entscheidung zwischen
Glanz und Elend
„Meine Damen und Herren, dies ist ein guter
Tag für Deutschland und ein glücklicher Tag
für mich persönlich“ (Helmut Kohl, Bulletin
des Presse- und Informationsamtes der
Bundesregierung, 13.2.1990 /
chronik-der-mauer.de). Mit diesen Worten
verkündet der Bundeskanzler seinen Erfolg
nach dem Treffen mit Michail Gorbatschow zu
Ende der zweiten Februarwoche 1990 in Moskau.
Was macht ihn so glücklich? Mit der
sowjetischen Zustimmung für die deutsche
Einheit können alle Vorbereitungen für die
Vereinigung beider deutscher Staaten
offiziell in Gange gesetzt werden. Ist damit
die deutsche Frage beantwortet? Nein, noch
lange nicht! „Es liegt jetzt an uns
Deutschen in der Bundesrepublik und in der
DDR, daß wir diesen gemeinsamen Weg mit
Augenmaß und Entschlossenheit gehen“ (ebd.).
Und gerade auf diesem Punkt sind sich noch
nicht alle einig, was sich in der
Öffentlichkeit widerspiegelt. Ob Politik,
Sport oder Kultur, in den Zeitungen aus Ost
und West findet man zahlreiche Töne der
Einheit, aber auch der Skepsis. Was spricht
für die Bundesrepublik und was gegen die
DDR?
Woche des 5.
Februar 1990
Kaufen Sie den Multiboy (solange es
ihn noch gibt)!
Gar nicht so lustig -
Produktwerbung in der Ost-Berliner Presse
Kennen Sie den "Multiboy"? Klar, wird
vermutlich jede(r) "gelernte" DDR-Hausfrau (Hausmann)
sagen! Schließlich ist der
Lebensmittelzerkleinerer "Multiboy"
bereits seit Ende der 1970er Jahre von der
Abteilung Konsumgüterproduktion des VEB
Elbtalwerke Heidenau hergestellt worden.
Bereits 1984 lief das 500.000 Stück vom
Band. Die Neue Zeit beschrieb damals
anschaulich das Können des vielseitigen
Küchenjungen: "Mit ihm lassen sich alle
Arten von Fleisch zerkleinern wie
beispielsweise für Tartar oder Pasteten.
Ebenso hackt es Gemüsearten wie Rot- und
Weißkohl, Radieschen, Kohlrabi oder Möhren
in einer Zeit von vier bis zehn Sekunden.
Bei zerkleinerten Kartoffeln erspart der "Multiboy"
mühsames Reiben beim Zubereiten von Klößen
oder Kartoffelpuffern."
Januar 1990
Woche des 29.
Januar 1990
Zerfall und Bindung
Kein Wandel ohne
Unbehagen
Fragen zum Thema Bindung, Loslösung und
Neutralität stellen sich auch auf der Ebene
internationaler Politik: wie soll die Rolle
eines vereinigten Deutschlands gestaltet
werden? Neutralität, NATO-Bindung, EG-Beitritt?
Das Thema spaltet. Die Reaktionen reichen
von leicht kryptischen, politischen
Spielraum bewahrenden Aussagen, wie der des
zuständigen Vizepräsidenten der EG-Kommission,
Frans Andriessen: "Dies ist keine Frage von
Monaten, obwohl man nie weiß." (NZ,
01.02.1990) bis hin zum überraschend neuen
Konzept Hans Modrows, Deutschlands Einheit
zum Preis der militärischen Neutralität
gewährleisten zu können: "Deutschland einig
Vaterland". Gorbatschow hat grünes Licht
gegeben, die NATO sieht das freilich etwas
anders, Helmut Kohl lehnt es strikt ab.
Woche des 22.
Januar 1990
Körpereinsatz
Die Revolution geht
weiter
Die Revolution geht weiter: Auftakt für eine
Folge Aufsehen erregender Aktionen, welche
die Menschen in der zweiten Januarhälfte
1990 in Bewegung hielten, war ein Warnstreik
von Berliner Taxifahrer, die mit einem Korso
zum Marx-Engels-Platz am Abend des 12.
Januars „gegen den schleppenden Prozeß der
Demokratisierung in unserem Land“ (BZ
13.1.1990) protestieren wollten. Während die
Neue Zeit (16.1.1990) die „Umsicht“ der
Taxifahrer lobte, die einen Notdienst
gewährleistet hatten, kritisierte sie das
Neue Deutschland scharf: „Wenn morgen die
Milchfahrer, wohlbemerkt, berechtigte
politische und soziale Forderungen haben,
soll dann die Milch für unsere Säuglinge
sauer werden?“
Woche des 15.
Januar 1990
Katerstimmung und Katzenjammer
Ängste in der DDR,
schmale Willkommenskultur im Westen
Es passiert: nichts. „Die Spitzel und SED-Mitglieder
sind alle noch in ihren Positionen.“ Zwar
werde seit Weihnachten nicht mehr abgehört.
„Aber das kommt wieder“, unkt eine „nachdenkliche
und gebildete“ Lehrerin. Von der
Bundesrepublik verspricht man sich nichts: „Wir
haben Angst, daß wir ein billiges Anhängsel
wie Thailand werden“. (SZ 13./14.1.1990).
Angst – das ist das Stichwort, das uns ganz
häufig begegnet in diesen Tagen. Sie macht
sich fest an der Sorge vor
Rechtsradikalismus, vor der Rückkehr der SED
an die Macht, „Angst vor einer neuen
Wirtschaftspolitik“ (ND 10.1.1990). […] Die
Wirtschaftsexperten kommentieren die
aktuellen Verhandlungen ironisch bis
skeptisch: „Nach den deutsch-deutschen
Festwochen macht sich Katerstimmung breit“,
meint das Handelsblatt zum zögerlichen
Bonner Taktieren angesichts der Ost-Berliner
Hoffnungen auf Unterstützung, während die SZ
von deutschlandpolitischem „Katzenjammer“
spricht (10.1.1990). In der Ost-Berliner
Presse wird dies auf den Alltag bezogen: „Es
wird kälter in diesen Tagen“, so ein Pfarrer
in einem Kommentar der Berliner Zeitung: „Enttäuschung
macht sich breit nach den Erwartungen, den
großen Hoffnungen des November. […] Aber
alltäglich in Betrieben, Schulen und Ämtern
erleben wir, daß dieselben Leute so
reagieren, wie sie immer reagierten. Es
ändert sich nichts mehr.
Jahreswechsel
1989/90
Einen ganzen Berg Arbeit
Gute Wünsche für 1990,
aber in der Silvesternacht herrschen die
Vandalen
"Nun war es ein paar Tage her, da Politiker
von hüben und drüben die Öffnung des
Brandenburger Tores begrüßten, da Tausende
diesen Akt unter der Quadriga als ein
Hoffnungszeichen friedlicher, besonnenen,
freien Miteinander feierten." Mit diesen
Worten begann Peter Böttchers Artikel "Ernüchterung
zu Neujahr" am 3. Januar 1990 in der
Berliner Zeitung. Er bedauerte vor allem den
Verlust des friedlichen Zusammenseins,
welcher in der Silvesternacht zu Tage trat:"Das
fatale Wort von der nationalen Besoffenheit
war schon längst gefallen, als nun mehr
Korken knallten als gewollt und auch
ungebetene Gäste erschienen." (BZ 3.1.1990).
Die Euphorie der gemeinsamen Silvesterfeier,
zu der die Medien in der Bundesrepublik und
der DDR aufgerufen hatten, wurde von
Vandalismus und somit einer "erschreckenden
Silvesterbilanz" (ND 3.1.1990) überschattet.
Dezember 1989
Jahreswechsel
1989/90
Vatermord und andere Depressionen
Aus Tagebuchblättern
deutscher Schriftsteller vom Jahreswechsel
1989/90
Zu Beginn des neuen Jahres sitzt Peter
Rühmkorf in seinem Haus im beschaulichen
Hamburger Vorort Övelgönne und sortiert
Zeitungen aus, blättert in alten Unterlagen
und schlitzt sich beim Suchen nach
Dokumenten des VS (Verbands [west-]deutscher
Schriftsteller) an scharfem Fotopapier in
den rechten Mittelfinger: „sehr tief, sehr
weh, sehr hinderlich: DER TIPPFINGER. Da ich
gerade Lakritzbonbon in den Mund gesteckt
hatte, seltsame Synästhesie: etwas schmerzt
und etwas schmeckt.“ (TaBu I, S. 188)
Immerhin, so gerät der sonst unweigerliche
neue Schub der „Jahresausklangsdepressionen“
(S. 174) halb selbstironisch, während der „Chefhypochonder“
an den Tagen zuvor zwischen „Angstneurose“
und „Vernichtungsgefühl“ schwankte (S. 181).
Schuld daran ist offenkundig die „gesamtdeutsche
Teutomanie".
Woche des 23.
Dezember 1989
"In diesem Jahr ist alles anders"
Alte und neue Hoffnungen
zu Weihnachten in der Revolution
Viel mehr bewegte die Menschen, welche Rolle
Weihnachten als Zeit der Stille und
Besinnung in einer Zeit lauten Protests
einnehmen konnte. Zu diesen Menschen gehört
auch Birgit Ulrich, welche in ihrem Artikel
"Mitten in der Revolution ist Weihnachten"
in der Berliner Zeitung vom 23.12.1989 ihren
Gedanken über die Rolle und den Sinn der
weihnachtlichen Stimmung freien Lauf ließ.
Passen Weihnachten und Revolution überhaupt
zusammen? Kann eine si revolutionäre Zeit
eine Verschnaufpause einlegen?
Woche des 18.
Dezember 1989
"Wir sind Deutsche, was seid ihr?"
Vorweihnachtliche Wünsch
in Ost und West
Die Montagsdemonstrationen sind seit zwei
Wochen zum Ort eines "unerbittlich
ausgetragenen Meinungsstreit[s]" geworden. "Daß
noch keine Backsteine geflogen sind "sei ein
Wunder. Immer stärker werde der Ruf nach
einer raschen Vereinigung, immer unduldsamer
würden Anhänger einer unabhängigen DDR
ausgegrenzt. Und noch eine weitere
Beobachtung registrierte der Münchener
Reporter: "daß die Anzahl der Menschen
neuerdings abnimmt, die sich montags zum
stillen Gebet in den Kirchen" treffen. Ein
Demonstrant verrät: "Die Leute gehen lieber
noch schnell einkaufen, bevor die
Demonstration losgeht".(SZ 13.12.1989)
Woche des 11.
Dezember 1989
An der Schneelinie – die Revolution
öffnet andere Orte
Volker Braun plädiert für
die Möglichkeiten des ebenen Geländes
Der Dichter Volker Braun lässt in diesen
Dezember-Tagen einen Text aus dem Jahr 1977
ins Neue Deutschland einrücken und
kommentiert ihn mit „Notizen eines
Publizisten“. Es ist das Bild einer
Seilschaft, die in der ersten Zeile
feststellt „Jetzt geht es nicht mehr
vorwärts in dem ewigen Schnee“, weil sie
sich offenbar in ein bürokratisches Gebirge
gewagt hat, dessen „Formulare / Kies /
Versprechungen / kalter Kaffee“ den Blick
verstellen: „Wo wollen wir eigentlich hin./
Ist das überhaupt der Berg, den wir beehren
/ Oder eine ägyptische Pyramide.“ Mit Brauns
Intervention haben wir die hier übliche
Sphäre des Alltags ziemlich deutlich
verlassen. Aber vielleicht hilft der
intellektuelle Höhenflug zu verstehen, wie
sehr sich in diesen Tagen immer noch Neues,
Fremdartiges, Unerhörtes in den Blick der
Menschen drängt. Entdeckt werden gleichsam
die anderen Orte im eigenen Land, die
bislang ausgeblendet waren, jenseits jeder
Wahrnehmung.
Woche des 4.
Dezember 1989
Vergessen, verkauft, verschoben
Verlassene Kinder und
andere Schattenseiten der Freiheit
Der kleine Steffen aus Friedrichshain ist
erst neun Monate alt. Gemeinsam mit seiner
zweijährigen Schwester Katharina und dem „großen“
Bruder Christoph (3 Jahre) ist er seit Tagen
in der Obhut eines Kinderheims der Berliner
Jugendhilfe. Die drei Geschwister sind wohl
die jüngsten unter den 107 Kindern, die seit
Ende August 1989 von ihren Müttern und
Vätern verlassen worden sind, die sich in
den Westen aufgemacht haben bzw. seit dem 9.
November die neue Reisefreiheit erkunden
wollten. Ihr Schicksal rührt an diesem
ersten Adventswochenende die Herzen nicht
nur der Berliner. [...] Unter den
Nebenerscheinungen der Freiheit, deren
Folgen in diesen Tagen vermehrt die Ost- wie
Westpresse füllen, sind die verlassenen und
vergessenen Kinder sicher die tragischste.
Viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit finden
indes die Schieber und Schwarzhändler, ja
sie provozieren sogar staatliches Handeln
und neue Reglementierungen der Freiheit.
November 1989
Woche des 27.
November 1989
Inspektion im Internierungslager
Voyeure in Wandlitz, ein
stolzer Neu-Berliner & Kaufhaus des Ostens
Die Szene ist ein Waldweg in einer kleinen
Siedlung von soliden Einfamilienhäusern,
nordöstlich von Berlin, unauffällige,
zweigeschossige Bauten aus den späten 1950er
oder frühen 1960er Jahren. Von Bäumen und
Büschen mitunter verdeckt, sind die meisten
Grundstücke nicht vollkommen einsehbar. Doch
alles wirkt ländlich-sittlich, die Anmutung
eines Waldhufendorfs. Es ist schon
winterlich kalt an diesem Novembernachmittag,
die Wege etwas verschneit und es ist fast
menschenleer. Nur ein älterer Herr geht
spazieren, neben ihm, das ist wohl seine
Frau. Da wird der Erholungsgang des Ehepaars
plötzlich gestört. Eine größere
Menschenansammlung streift durch die Gehölze,
auf dem Weg durch die Siedlung – der Herr
wird erkannt und gegrüßt, höflich, aber wohl
nicht mehr mit demselben Respekt, dessen er
sich vor wenigen Wochen noch sicher sein
durfte. Er grüßt zurück und erkennt die
Besuchergruppe. Das sind gewiss Journalisten.
Wie es ihm gehe, wird er gefragt, wie lange
er hier schon lebe, was er gerade mache? Der
ältere Herr reagiert zunehmend gereizt, am
Ende fast empört: Das sei ja eine „Hetze“,
die seit Tagen „überall getrieben wird“
wegen dieser Siedlung. Und gar nicht wohl
fühle er sich – es sei ja wie im „Internierungslager“.
So viele habe er in seinem Leben schon
durchstehen müssen. Und Kurt Hager, kein
anderer ist es, der Ex-Kulturchef der DDR,
zählt Stationen seines Exils in Frankreich
und Großbritannien bis 1945 auf.
Woche des 20.
November 1989
„Politisch das große Los gezogen,
sportlich eine Niete“
Nicht nur die schönste
Nebensache der Welt steht im Schatten des 9.
Nov.
Hat die DDR nun nicht
schon historische Tage genug gehabt in
diesem Jahr 1989? Doch im Neuen Deutschland
hofft man schon wieder auf Historisches, auf
„Weihnachten und Ostern an einem Tag. Dieser
15.11.89 könnte zu einem ganz spektakulären
Datum avancieren.“ Leider aber brachte er
nur wenige Tage nach der Euphorie des
Mauerfalls für die Fußballfans in der DDR
eine bittere Ernüchterung. [...] Die Wiener
„Presse“ kommentierte: „Die DDR wurde vom
ersten Tor angeknackst, vom zweiten
getroffen und vom verschossenen Elfmeter
endgültig erledigt. Sie hatte politisch das
große Los und sportlich eine Niete gezogen“
(zitiert nach: BZ 17.11.1989). [...] Doch
wären die Oberliga-Vereine der DDR überhaupt
wirtschaftlich in der Lage, ihre Profis
ordentlich zu bezahlen?
Woche des 13.
November 1989
WAHNSINN
Doch vor dem Mauerfall
ist im Westen die Rede von Neid, Missgunst
und Hass
In 8.530 Einträgen
erfasst die Volltextsuche des Systems „DDR-Presse“
der Berliner Staatsbibliothek das Wort
WAHNSINN, 361 Mal wird es im Jahr 1989
gezählt (nur 1990 ist es häufiger mit 385
Nennungen) […] Ganze vier Mal fällt das Wort
in den Hauptstadtzeitungen so, wie es den
Menschen in der Nacht vom 9. auf den 10.
November 1989 allein in den Sinn kam: als
die absolute Verkehrung aller Ordnung. In
der Berliner Zeitung muss man am 11.
November bis auf Seite 6 blättern, um es zu
finden [...] Die drei weiteren Zitate
dieses Worts der Woche finden sich
ausschließlich in der Neuen Zeit: Hier hat
es der „helle Wahnsinn“ sogar auf die
Titelseite gebracht, und doch reibt man sich
über die merkwürdige Gelassenheit die Augen.
Woche des 6.
November 1989
Soft-Revolution, beinah mitreißend
Peter Rühmkorf
inspiziert den Prenzlberg und guckt in die
Röhre
Er „ist zu Hause in der
Tradition, er nimmt sie sich her: die
Philosophie, die Literatur, die Wissenschaft,
er schustert, schneidert, dreht und wendet,
macht, was er schreibt, auch immer zum
Genußmittel“. So rühmte ihn die Berliner
Zeitung erst vor wenigen Tagen und nahm ihn
geradezu für die DDR in Anspruch: Peter
Rühmkorf, der „sein unverwechselbares Profil
sowohl als Lyriker wie auch als Erzähler und
Essayist“ zeigt, wie die Neue Zeit in ihrem
Glückwunschartikel zum 60. Geburtstag des
Poeten aus Hamburg am 26. Oktober 1989
sekundiert. […] Und in diesen Tagen rückt er
noch ein wenig näher an die DDR heran. Denn
nachdem er erst im September in der Akademie
gelesen hatte, will er nun schon wieder in
den Osten Berlins und lässt sich von den
Grenzern an der Friedrichstraße voller Stolz
die Korrespondenzen durchblättern …
Oktober 1989
Woche des 30.
Oktober 1989
Das wäre die Revolution: mit einer
Tasse Kaffee einfach auf die Terrasse
Mehr Freundlichkeit und
andere Träume von einer schöneren DDR
Es ist die Woche der
Demonstrationen und Dialoge. Beinahe täglich
gibt es Kundgebungen und Protestzüge in
Berlin, und neben der Leipziger
Montagsdemonstration ziehen in den ersten
Wochentagen u. a. in Schwerin, Dresden,
Plauen, Zwickau und Jena die Menschen durch
die Straßen. Kleinere Städte wie Greiz,
Senftenberg und Halberstadt kommen am
Wochenende dazu und können gewaltige
Teilnehmerzahlen mobilisieren. Nicht alle,
so will uns das ND glauben machen, sind
davon begeistert. Eine Demo in Berlin habe
viele aufgeregt, deren Alltag gestört war:
„Berliner Bürger fragten, wann endlich
Schluß sein werde mit diesen schweren
Störungen von Ruhe und Ordnung. Mütter
beklagten, daß ihre Kinder keinen Schlaf
finden. […] Straßenbahnfahrer wollten wissen,
wie sie […] den Verkehr aufrechterhalten
sollen.“ (ND 26.10.1989) – Die Revolution
ist offensichtlich im Alltag angekommen.
Woche des 23.
Oktober 1989
Ein Blutfleck vor dem Großen Haus,
aber die DDR bleibt ewig
In der Woche von
Honeckers Sturz prophezeit das
West-Feuilleton die Ostalgie
Vor dem Gebäude des
Zentralkomitees der SED stört ein Blutfleck
die Passanten. Es ist der Nachmittag des 18.
Oktobers 1989. [...] Um 15.00 Uhr hatte das
1. Fernsehprogramm der DDR das laufende
Programm mitten in dem Jugendfilm „Jeder
träumt von einem Pferd“ für eine
Sondersendung der „Aktuellen Kamera“
unterbrochen und den Rücktritt Erich
Honeckers sowie die Wahl seines Nachfolgers
als Generalsekretär des ZK der SED
mitgeteilt. Aber im Straßenbild der
Hauptstadt hat sich nichts geändert.
Weiterhin „liegt das große graue ZK-Gebäude
in ruhiger Herbstsonne“ und die Passanten
sehen „nicht so aus, als hätte sie die
Nachricht tief erschüttert oder überhaupt
nur bewegt.“ Schon am Morgen waren viele
Wagen aus allen Teilen der Republik
vorgefahren, und im angrenzenden kleinen
Park „saßen überraschend zahlreich die
jungen Männer in ihren unverdächtigen
Anoraks“...
Woche des 16.
Oktober 1989
Mitten in Europa - ein Intermezzo
auf dem Höhen des Thüringer Walds
Das Friseurhandwerk
klagt: Revolution ist schlecht für das
Geschäft
Durchatmen – der 9.
Oktober liegt hinter uns, und mit Radjo
Monk, dem Autor des vielleicht schönsten
Tagebuchs der Revolution („Blende 89“)
genießen wir die frische Luft in Frauenwald
auf den Höhen des Rennsteigs. In einer
Berghütte ist der freie Autor und Künstler
mit seiner Partnerin Edith Tar für einige
Tage – eigentlich verspätet angekommen, aber
er wollte Leipzig am Montag „nicht verlassen
[…] es wäre einer Flucht gleichgekommen“. In
dem kleinen Städtchen im Thüringer Wald
werden die Großstädter sogleich zu Zeugen
für die revolutionäre Wirklichkeit ...
Woche des 9.
Oktober 1989
Die letzten Tage von Pompeji oder:
„Die Zone iss im Arsch“
Die Revolution macht
sich auf den Weg
Dies sind die Tage, in
denen Weltgeschichte geschrieben wird. Durch
Sachsen rauschen schon wieder Züge mit neuen
Prager Botschaftsflüchtlingen und in Dresden
spitzt sich die Lage in der Nacht vom 4. zum
5. Oktober 1989 dramatisch zu, weil viele
Menschen auf die aus Prag erwarteten Züge
aufspringen wollen. Ein gewaltiger Aufzug
von Sicherheitskräften und der Mut der
Verzweiflung vieler, die einfach nur weg
wollen, produzieren bürgerkriegsähnliche
Zustände, über die aber zunächst nur
Unklares verlautet.
Woche des 2.
Oktober 1989
„Etliche weinten hemmungslos“
Und eine private Ahnung:
Mauerfall, Revolution, Vereinigung im
September 1989
Wohl fast alle Familien
in Ostdeutschland und nicht wenige im Westen
werden für diesen Herbst 1989 ihre ganz
eigenen Alltagsgeschichten haben, wo sich
die große Politik mit dem ganz privaten
Leben berührt. Geschichten, wo man war an
bestimmten Tagen, wie dem 9. Oktober oder
dem 9. November, Über-lieferungen, die
anfangen mit „Weißt Du noch, als wir …“.
Meist sind diese Geschichten gar nicht so
aufregend und wenn man sie Fremden erzählt,
dann staunen sie, was man damit überhaupt
sagen will. Für einen selbst sind diese
Geschichten aber kostbar und wichtig, und
man möchte sie immer wieder erzählen. Und
obwohl in dieser letzten Woche des
Septembers 1989 so unendlich viel passiert
ist – in Leipzig „die größte
Protestdemonstration von DDR-Bürgern seit
[…] 1961“ mit einem „Sit-In“ im Hauptbahnhof
(SZ 27.9.1989), in Prag (und Warschau) die
Überflutung der Bonner Botschaft mit
Tausenden von Ausreisewilligen und
schließlich ihre Ausreise via DDR-Territorium,
in Ost-Berlin die nervöse Vorbereitung des
großen Jubelfests zum 40. DDR-Geburtstag, um
nur diese wenigen Schauplätze zu nennen –
beginnt unser Beitrag heute einmal ganz
persönlich ...
September 1989
Woche des 25.
September 1989
Reformen, Staatsfeinde, Viertes
Reich
Formierung der
DDR-Opposition & Gedankenspiele zu
Deutschlands Zukunft
Aber wer ist überhaupt
diese merkwürdige DDR-Opposition? Albrecht
Hintze charakterisiert sie in einer
umfassenden Analyse als „zaghafte Bewegung
im erstarrten Land“ (SZ 21.9.1989). „Verwirrend
und noch verschwommen“ ist das breite
Spektrum der verschiedenen Gruppierungen für
ihn. Seine Reportage beginnt im überfüllten
Café Shalom in der Friedrichshainer
Samaritergemeinde, wo Rolf Henrich, frisch
aus der SED ausgeschlossener Rechtsanwalt
aus Eisenhüttenstadt, aus seinem im Westen
erschienenen Buch „Der vormundschaftliche
Staat“ liest. Der Mitinitiator des Neuen
Forums ist zu Gast bei Pfarrer Eppelmann,
selbst seit langem in der Ost-Berliner
Dissidenzszene führend. Indes wird der
Schritt „aus dem Dunstkreis der Kirchen“ von
Hintze als wichtigstes Entwicklungsmoment
der Bürgerbewegung herausgearbeitet und mit
einer Forderung aus dem Zuhörerkreis im
Kirchencafé illustriert: „Ihr müsst die
Werktätigen erreichen […], sonst könnt ihr
nichts bewegen.“
Woche des 18.
September 1989
„Einzug ins Paradies" oder "Abschied
von der Idylle"?
DDR-Übersiedler: "Sklavenhandel",
Wohnungsnot, Ängste der Einheimischen
Von "Sklavenhandel" hatte
ein Kommunalpolitiker aus dem
niederbayrischen Vilshofen gesprochen, weil
dort DDR-Bürger direkt von Arbeitslosen
angesprochen und mitgenommen würden und
machte damit Schlagzeilen in Ost-Berlin (NZ
16.9.1989). Dass dies alles nicht nach einem
"Einzug ins Paradies" klingt, ist
verständlich. Umso ironischer, dass
ausgerechnet in diesen Tagen im ARD-Fernsehprogramm
als Übernahme aus der DDR eine Familienserie
gleichen Titels auf der Mattscheibe
erscheint. Es geht um den ganz normalen
Alltag in einem Neubaublok in Berlin-Marzahn.
Woche des 11.
September 1989
„Unsere kleine Wiedervereinigung“
Ungarn trifft eine
Entscheidung, die Tausende in Ost und West
bewegt.
Immer mehr DDR-Flüchtlinge
hoffen in der ungarischen Vertretung der
Bundesrepublik auf die versprochene Ausreise
in den Westen. Von Bonn aus werden alle
möglichen Kapazitäten der insbesondere an
den nationalen Grenzen naheliegenden
Bundesländern in Bewegung gesetzt, um die
Aufnahme von Tausenden Ostdeutschen bald
reibungslos zu ermöglichen. Dagegen versucht
die DDR anhand politischer Versprechungen,
ausreisewillige Bürger zur Rückkehr
aufzurufen. Bei der Entscheidung, entweder
ihre Grenzen im Sinne der DDR-Flüchtlinge
und der Bundesrepublik zu öffnen, oder diese
in Anlehnung an völkerrechtliche Verträge
und Vereinbarungen mit der DDR weiterhin
geschlossen zu halten, befindet sich Ungarn
politisch in einer Zwickmühle. Der Druck auf
beiden Seiten steigt, doch bald entscheidet
sich die Regierung in Budapest für eine
humanitäre Lösung.
Woche des 4.
September 1989
„Der Sozialismus ist so gut; da
verlangen sie immer mehr und mehr“
Cafés ohne Kaffee,
feuchte Krankenhäuser, verschwundene Freunde
Es geht also weiter mit
den guten Meldungen aus dem Sozialismus.
Sogar mäßigem Kantinenessen rücken die
wachsamen Stadtbezirksvertreter in Berlin-Friedrichshain
auf die Pelle. Zwar sei der Gesamteindruck
des Versorgungs-angebots im Bezirk gut. Aber
der werde „geschmälert, wenn Sein und Schein
in krassem Widerspruch stehen. Zum Beispiel
das Speisenangebot zum Namen der Gaststätte.
Im ‚Baikal‘ ist von russischer Küche nichts
zu spüren, und im ‚Cafe Melange‘ gibt es
keinen Kaffee. Hier muß sich schnellstens
etwas ändern.“ (ND 2.9.1989) Das haben auch
andere erkannt [...] Erich Mielke hat am 31.
August 1989 die Bezirkschefs der
Staatssicherheit zum Rapport einbestellt.
Denn die Ausreisebewegung und die partielle
Grenzöffnung in Ungarn versetzen auch den
Minister für Staatssicherheit in Unruhe.
Dass der Alltag „angespannter“ wird, erlebt
auch der zehnjährige Hagen Straßburger: „Am
ersten Schultag fehlten zwei Kinder – Gregor
und Annegret. Die Lehrerin redete eine sehr
lange Zeit über diese bösen Kinder und deren
Familien und wir verstanden […] fast alle
nur ‚Bahnhof‘. Aber wir standen auf Seiten
der Lehrerin, denn im Kapitalismus kostete
das Brot 5 Mark […] und im Sozialismus […]
nur 30 Pfennig“.
August 1989
Woche des 28.
August 1989
Schüsse an der Grenze: Waren es die
"Revanchisten" aus dem Westen?
DDR-Übersiedler erleben
den Alltag zwischen Übergangsheim und
Nachschulung
„Die Täter feuerten aus
einer Waffe ca. 50 Schuss ab und gefährdeten
ernsthaft Leben und Gesundheit der Einwohner
des Ortes“ (BZ 19.8.1989). Die Empörung ist
groß und lautstark: „Da sieht man wieder
einmal, wie es um die Friedensliebe der BRD
bestellt ist. Es klingt wie ein Hohn, wenn
die BRD-Regierung uns immer wieder als ihre
Landsleute betitelt“, wird der Rentner
Reinhold F. (ND 19.8.1989, dort mit vollem
Namen) aus Wahlhausen zitiert. Und was gab
es sonst Wichtiges? Großes Bonner
Sommertheater: Kanzler Kohl streitet seit
Wochen mit Generalsekretär Geißler – bis er
ihn feuert und einen Nachfolger präsentiert.
Wird ihm jetzt Rita Süßmuth den
Parteivorsitz streitig machen? Viel
wichtiger aber ist die Premiere eines uns
heute im Alltag ganz unverzichtbaren
Utensils: die PPP-Flasche, oder schlicht:
Plastikflasche für Mineralwasser, Säfte,
Softdrinks usw. Umweltminister Töpfer hatte
sie, als sie vor Jahresfrist als
Einwegflasche eingeführt werden sollte, mit
einem gewaltigen Zwangspfand (50 Pfennig!)
verhindert. Jetzt soll sie als
Mehrwegflasche kommen. (SZ 25.8.1989) – Die
Wessis haben wieder einmal Sorgen!
Woche des 21.
August 1989
Mit dem Mikroprozessor gegen die
Ausreiseflut?
Im Zeichen von Sopron:
Volle Botschaften, Luxus-Container, DDR-Bürger
in der Schlange
Während der Osten seine
Siege bei den Europameisterschaften im
Schwimmen, Wasserspringen, Synchronschwimmen
und beim Wasserball beklatscht, wird der
Westen Deutschlands durch die
Flüchtlingswelle aus der DDR überflutet.
Über die ganze Woche häufen sich die
Meldungen über die besetzten Botschaften
Bonns in Ost-Berlin und Budapest in der
West-Presse. Bei ND und Co. fallen solche
Themen weiter meist unter den Teppich...
Woche des 14.
August 1989
„Frontberichterstattung“, nicht nur
von der Marienkäfer-Invasion
Ende der Normalität
oder Dauer-Lüge? Die DDR-Medien und die
Fluchtbewegung
Die Marienkäfer-Invasion
im Ostsee-Raum war ein gesamtdeutsches
Ereignis schon vor der Vereinigung. Die
Berliner Zeitung hatte die kleinen
Krabbeltiere als erste ausgemacht und
meldete noch mit Lob für ihre Nützlichkeit.
[…] Dass die Küsten Schleswig-Holsteins von
der Marienkäfer-Plage in gleicher Intensität
betroffen waren, kann der Berichterstatter
aus eigener Urlaubserinnerung an der
Lübecker Bucht vom Sommer 1989 nur noch
etwas diffus bestätigen. Auch die
überregionale West-Presse lässt uns im Stich;
aber warum sollten die Krabbler vor der
Grenze Halt gemacht haben? […] Neben all
diese mehr oder weniger unschönen Störungen
des Ferienglücks rückt in diesen Wochen aber
mit großer Macht die Zuspitzung der
Ausreisewelle über Ungarn und die
westdeutschen Botschaften. Können die DDR-Medien
das Thema weiter verdrängen? …
Woche des 7.
August 1989
Das rosarote Bild der Bundesrepublik
verwandelt sich in tristes Grau
Zwei
Sommer-Diskussionen über das Leben in
Deutschland Ost und West
Es wird immer kälter im
Land! Am 5. August meldet das Neue
Deutschland, dass der August 1989 mit einem
Kälterekord begonnen habe: Mit einem
Tagesmittel von 11, 5 Grad Celsius war es
der kühlste 2. August seit 1893! Und mit der
gleichen Coolness fertigt das ND auch das
Thema ab, das in den westdeutschen Zeitungen
in diesen Tagen zu Augustbeginn alle
Aufmerksamkeit auf sich zieht: die wachsende
Zahl von DDR-Bürgern, die über Ungarns grüne
Grenze, aber auch über die westdeutschen
Vertretungen in Budapest, Prag und Ost-Berlin
den Weg in den Westen suchen. Der Spiegel
und die Süddeutscher Zeitung greifen dabei
teils weit zurück zu den Übersiedlungswellen
aus der Mitte der 1980er Jahre. Der Spiegel
stilisiert das gar zu einer „Psycho-Kampagne“
…
Juli 1989
Juli / August
1989
Der Wunsch zu bleiben und der Drang
zu gehen
6 x Hiddensee – München
und zurück. Sommer-Erinnerungen der Kinder (Teil
1)
Es muss irgendwann im
Juli 1989 gewesen sein, als der 19jährige
Pfarrerssohn Alexander Schulz aus Potsdam
nach frisch bestandenem Abitur eine ganz
besondere Erfahrung mit dem dysfunktionalen
System der Planwirtschaft machte […]. Seine
Anekdoten zeigen gewiss mehr vom Alltag der
DDR als die offizielle Tagespresse der DDR
im Sommer 89. Beim Blättern durch das
Bändchen mit 25 Texten von jungen Menschen (Pflugbeil
2011), deren Eltern sich vor allem 1989/90
für Veränderungen in der DDR eingesetzt
haben, findet man zahlreiche
Erinnerungsbilder, die besonders dichte
Zugänge in die Lebenswirklichkeit der DDR
dieser Monate schaffen. Freilich fehlt oft
die genaue zeitliche Rahmung. Wie Alexander
Schulz schreibt: „Die Chronologie der
Ereignisse gerät in meiner Erinnerung
durcheinander.“ Und dies liegt auch daran,
weil die Zeit und die Empfindungen so
widersprüchlich waren: „Der Wunsch zu
bleiben und der Drang zu gehen, bevor es
unangenehm und gefährlich wird, wechselten
sich ab“ …
Woche des 24.
Juli 1989
Gehen die „Gegner des
vertrauensvollen Miteinanders“ in die
Öffentlichkeit?
Die Essener WAZ
entdeckt „ein kleines Stück Glasnost“ in der
DDR
Wenn ein „normaler
Vorgang“ so viel Aufmerksamkeit findet, dass
er nicht nur die Titelseiten bestimmt,
sondern sogar die in der Ost-Berliner Presse
so seltene Gattung des Leserbriefs bemüht
wird, heißt es aufmerken. Die aktuelle
Sommerwoche bietet uns einen Briefwechsel:
zwischen dem – eigentlich im Urlaub
befindlichen – Staatsratsvorsitzenden und
dem evangelischen Bischof von Greifswald,
Horst Gienke. Und dabei geht es eigentlich
nur um ein Dankeschön für den netten Besuch
Honeckers bei der Domeinweihung und die
Bekräftigung des dort schon Verkündeten: ein
fröhliches Miteinander und Respekt vor den
Christen in der DDR. Aber in Gienkes Brief
findet sich auch ein Hinweis auf eine andere
Bewertung: „Inzwischen hat der 11. Juni in
Greifswald ein lebhaftes Echo in unserem
Land und weit darüber hinaus ausgelöst.
Viele frohe, ja begeisterte Stimmen haben
mich erreicht, aber auch harter Widerspruch.“
Und von wo kam diese Kritik? Ist die
Öffentlichkeit dieser „Gegner“ freilich nur
die der Westmedien?
Woche des 17.
Juli 1989
1789/1989: Eine Revolution wird
gefeiert – und die Menschen laufen weg
Aber die Volkspolizei
wirbt weiter um Nachwuchs „im Dienst für
Ordnung“
Für die aufregenden
Entwicklungen im Lande, die neuerlichen
Demonstrationen in Ost-Berlin (7. Juli) und
Leipzig (9. Juli) gegen die Wahlfälschungen,
aber auch die zunehmende Abwanderungs- und
Fluchtwelle hat die Ost-Berliner Presse noch
keinerlei Mut, und selbst im Westen sind
noch viele Mutmaßungen in die Berichte
gemischt […] Zu den Spekulationen über die „Massenflucht
über West-Botschaften“ fügt „Der Spiegel“
unter dieser Überschrift die Information
hinzu, dass zumindest „im Hinterland“ der
Grenze „ertappte Ost-Flüchtlinge“ zwar „neuerdings
[…] nicht mehr von den Ungarn eingesperrt“
würden. Allerdings erhielten sich „einen
Stempel in den Paß. Erst bei ihrer Rückkehr
in die DDR werden sie, durch den Stempel
verraten, verhaftet“ …
Woche des 10.
Juli 1989
Die moralische Verrottung der
spätbürgerlichen Gesellschaft
Gorbatschow gibt die
Breschnew-Doktrin auf und in der DDR
erscheint „Lolita“
Die Ost-Berliner
Tageszeitungen dieser Woche stehen – alles
in allem – ganz im Zeichen der Ernteschlacht.
Vor allem die Wintergerste wird eingebracht,
vorzeitig, nach einem allzu heißen Juni,
aber doch mit gutem Ertrag […] „Wir wissen,
daß es auf jedes Korn ankommt, um den
Staatsplan zu erfüllen und so viel wie
möglich wirtschaftseigenes Getreide für die
Kooperation zu sichern“. Am Wochenende hält
das SED-Zentralorgan inne und denkt mit
erhobenem Zeigefinger über den Sinn der
Ernte als Element der sozialen Sicherheit in
der DDR nach: „Wer macht sich in unserem
Lande Sorgen ums tägliche Brot? Es ist für
jedermann selbstverständlich, zum Bäcker
oder in die Kaufhalle zu gehen, sein Brot,
seine Brötchen zu holen, seit Jahr und Tag
zum gleichen Preis. Es ist so
selbstverständlich wie Atmen - für jeden von
uns wohlgemerkt.“ […] Und wenn wir uns schon
einmal ins Feuilleton verirrt haben: Hier
findet sich – Gorbatschows Rede und das Ende
der Breschnew-Doktrin hin, die mutigen
Kundgebungen zum Umbau der DDR auf dem
Leipziger Kirchentag her (WAZ 8.7.1989) –
das wirklich Revolutionäre dieser Sommertage:
Nabokovs „Lolita“ erscheint mit 35jähriger
Verspätung auch in der DDR! Der Rezensent
der NZ (10.7.1989) hat mächtig Probleme,
seiner Irritation Herr zu werden …
Woche des 3.
Juli 1989
„Einige Wochen lang fast alle
Mittelmeer-Strände fest in deutscher Hand“
Meldungen, Kommentare
und Impressionen zur Urlaubssaison in Ost
und West
Sieben Tage lang
besch����������ftigt sich die Presse in Ost und West
mit dem so heiteren Thema Urlaubszeit. Lange
Reportagen, kleine und mittelgroße Meldungen
sowie Leserbriefe vereinen Deutschland zu
einem Ferienland. Ob am Mittelmeer oder im
Oberharz, auf dem Campingplatz oder in einer
Urlaubsresidenz, Massentourismus oder
Naturerlebnisse, ob Mensch oder Tier Es ist
für jeden etwas dabei ...
Juni 1989
Woche des 26.
Juni 1989
„Color 40“ verspricht doppelte
Lebensdauer und neues Design
Nach dem 8. ZK-Plenum
erscheint die DDR ähnlich urlaubsreif wie
der Westen
Das neue Gerät ist ein
wirkliches Wunderding und verspricht für
Freizeit und Alltag der DDR-Bürger
Großartiges. Er steckt voll Elektronik, kann
trotzdem (oder deswegen?) schneller
produziert werden und steht „mit erhöhter
Bild- und Tonqualität bei doppelter
Lebensdauer und neuem Design zum gleichen
Preis zur Verfügung". Da aus Betrieben in
allen Teilen der DDR bei der Entwicklung von
Color 40 geholfen wurde, ist er sogar „ein
Kind der ganzen Republik" (ND 23.6.1989).
Woche des 19.
Juni 1989
CAD / CAM in der DDR: „Computer am
Dienstag, Chaos am Mittwoch“
Eine große Woche endet
mit einer Flugzeugkatastrophe in Berlin-Schönefeld
Während in Bonn und
andernorts der sowjetische Staatspräsident
Michail Gorbatschow und seine Frau Raissa
die Herzen der Bundesbürger im Sturm
eroberten, triumphierte in der DDR der
Sozialismus einmal mehr in einer seiner
ursprünglichsten Varianten, nämlich als
Bildungsprojekt. Der IX. Pädagogische
Kongress der DDR wurde fast eine Woche lang
seitenweise in der Ost-Berliner Presse
bejubelt und so umfassend dokumentiert, dass
nur wenig Platz für andere Meldungen blieb.
Doch die Berliner Zeitung legte auf einem
anderen Feld ein sehr überzeugendes Stück
von investigativem Journalismus an den Tag.
Aufgebrachte Leser bemängelten das
mangelhafte Angebot mit Speiseeis in den
Kaufhallen der DDR-Hauptstadt; die BZ ging
flugs auf eine Inspektionstour durch sieben
Läden – und kam zum folgenden Befund …
Woche des 12.
Juni 1989
Mit ständigen Zwischenrufen die Stimmung in
der Kirche angeheizt
Früh aufstehen, sogar am
Sonntag, war wieder einmal angesagt in der
DDR, wenn man im Fernsehen der
Direktübertragung von der Einweihung des aus
langjähriger Restauration neu erstandenen
Doms zu Greifswald beiwohnen wollte – als
Live-Übertragung im DDR-Fernsehen schon eine
kleine Sensation. Die größte Besonderheit
war die Teilnahme von Erich Honecker an dem
Festgottesdienst, „zum ersten Mal“, wie
stolz vermeldet wurde (NZ 12.6.1989).
Natürlich ist die Ost-Berliner Presse voll
Freude über das „verantwortungs-volle
Verhältnis von Christen und Nichtchristen“
in der DDR (ND 12.6.1989), allerdings ist
die Begeisterung schon in der Bildlichkeit
etwas verhalten. Ohnehin war schon im
Vorfeld ein ganz anderer Akzent gesetzt
worden: Mit der Gründung eines „Verbands der
Freidenker der DDR“ (VdF) wenige Tage davor
setzte die SED erkennbar auf einen eher
kirchenfernen Kurs …
Woche des 5.
Juni 1989
Feiern bis zum Abwinken: Pressefeste,
Sorben-Festival, Kindertag
Kinder fühlen sich
wohlbehütet, glücklich und geborgen in der
DDR
Aus dem Feiern nicht
heraus kommen die Ost-Berliner in diesen
Frühsommertagen. „Nanu, sind schon wieder
Ferien?“ lässt die Neue Zeit sich den
verdutzten Bürger fragen, wenn „in hellen
Scharen die quirligen Kinder Busse und
Bahnen Richtung SEZ, Wuhlheide oder Tierpark
bevölkern“; eine etwas verräterische Frage.
Ist der Kindertag doch noch nicht so fest im
allgemeinen Bewusstsein verankert? An der
DDR-Presse kann es jedenfalls nicht liegen.
Mit Fotostrecken und fröhlichen
Kurz-Reportagen von „Eiszauber“ und „Friedenstauben“
wird des Ereignisses überall gedacht. Der
Spiegel nimmt es zum Anlass, die jüngste
Kinderliteratur der DDR genauer anzuschauen.
Dabei fallen immer mehr Tabus unter den
Tisch.“
Ziemlich tabufrei geht
die Berliner Zeitung mit dem Einzelhandel
und manchen Serviceproblemen um: Nicht
länger als 15 Tage dürfen die Geschäfte
während der Sommermonate schließen. Und im
Westen: alles prima? …
Mai 1989
Woche des 29.
Mai 1989
VERFASSUNGSTAG oder Freie Fahrt für
freie Bürger
Wachsende, aber sehr unterschiedliche
Mobilität zwischen Ost und West
Die Gießener Aufnahmestelle rechnet 1989
mit über 45.000 Deutschen aus der DDR, also fast 50 Prozent
mehr als Vorjahr. Im ersten Quartal habe sich der Zustrom im
Vergleich zu 1988 sogar verdreifacht. Dass der auch nach der
Kommunalwahl anhalte, so der FAZ-Kommentar, deute auf eine „Übersiedlungs-Spirale“
hin, „Je mehr Erfolg Übersiedlungsanträge haben, desto
kräftiger wird der Antrieb sie zu stellen.“ Außerdem sei „allabendlich
in den Wohnstuben der DDR […] auf den Bildschirm zu sehen“,
wie in China eine freiheitliche Massenbewegung entstehe. Für
Honecker müsse das „wie eine Flammenschrift auf der Wand
erscheinen“.
Vollgas war eines der Alltagsthemen der
Woche in Ost und West. Vor allem die Berliner Zeitung war
überfüllt von Meldungen zu schweren Verkehrsunfällen. So
zählte wie bereits am Donnerstag das fünfte Todesopfer der
Woche. Vor diesem Hintergrund besonders makaber wirkt ein
Streit um Tempolimits, der in West-Berlin in der gleichen
Woche die Gemüter in Wallung brachte. Dabei geht es um große
Werte: „Es jeht um die Freiheit!“ …
Woche des 22. Mai 1989
Wenn es die Kleingärtner nicht gäbe
Die Freizeitgärtner produzierten 1988
nicht weniger als ein Drittel des Obstes und ein Zehntel des
Gemüses, das in der DDR in den Verkauf kam. Dazu kommen noch
gewaltige Leistungen bei der Fleischversorgung, vor allem
Kaninchen (36.000 Tonnen), sowie bei der Honigerzeugung, die
fast ganz von den Hobby-Imkern übernommen wird. „Wie wollte
die DDR ihre Bevölkerung mit Obst und Gemüse wenigstens
einigermaßen ausreichend versorgen, wenn es die vielen
Kleingärtner nicht gäbe“ (FAZ 19.5.1989)
Zu den signifikanten Zeitungsmeldungen
gehören aber auch der telefonische Berliner Sportservice und
das DDR-Pfingstreffen der Freien Deutschen Jugend (FDJ). „Noch
rebelliert diese Jugend nicht, aber sie ist kritisch und
distanziert – eine Generation in Wartestellung.“ (Der
Spiegel 22.5.1989) …
Woche des 15. Mai 1989
Wunschzettel des modernen Menschen
Neuglobsow am Stechlinsee: Nichts läuft
glatt bei den Wahlen
„Das Wesentliche am modernen Menschen ist
möglicherweise seine Antragstellerschaft. Ein wichtiges,
aber schwer lernbares Merkmal, das eines Tages dazu führt,
daß man mit allerhand Erstauntheit alle diese fliegenden
Blatter ansehen kann: Als Kind nannte man sie Wunschzettel.
Die Erwachsenen haben eine andere Sprache dafür, aber wie im
Märchen, geht das eine und andre bisweilen in Erfüllung“ ...
Woche des 8. Mai 1989
Früh Aufstehen für den Wochenmarkt
Der Maianfang 1989 stand in der DDR
vorerst ganz im Zeichen der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989
... Dabei steht der Hohenschönhausener Bäckermeister
Hans-Joachim Blauert für die NDPD auf dem Wahlvorschlag der
Nationalen Front (ND, 5.5.1989). Während er sich vor Ort um
fehlende Mülleimer kümmert und Straßenbäume vor dem Abholzen
rettet, kämpft er bei der Berliner Handwerkskammer dafür,
traditionelle Backtechniken – wie das Flechtgebäck – dem
Nachwuchs zu vermitteln.
Zu den kleinen, signifikanten Meldungen am Rande gehören in den Ost-Berliner Zeitungen begeisterte Hinweise auf die Wiedereröffnung der Wochenmärkte in den Kiezen der DDR-Hauptstadt. Laut ND (4.5.1989) wurde der Saisonstart des Sommermarkts an der Markthalle sogar mit Blasmusik gefeiert. Mit einem gewissen Schrecken liest man hingegen die Öffnungszeiten.
Schicken Sie uns Ihre Kommentare und/oder
persönlichen Geschichten
Für großzügige Förderung danken wir der