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Promotionskolleg Ost-West
Lotman-Institut und
Institut für Deutschlandforschung |
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Natalja Shchyhlevska
Selma Meerbaum-Eisinger als Vertreterin der deutsch-jüdischen
Frauendichtung aus der Bukowina
Als "fünfte deutsche Literatur" ist sie
bekannt - die deutschsprachige Literatur aus der
Bukowina. Von Paul Celan als "geistige
Lebensform" bezeichnet, als "eine Gegend, in
der Menschen und Bücher lebten", ist die
Bukowina - Buchenland zu Deutsch - eine historische
Landschaft in den nordöstlichen Karpaten. Das Gebiet
ist reich an Wald, Bergen und Geschichte. Unter der österreichischen
Herrschaft entwickelte sich die Provinz des 18.
Jahrhunderts zu einem "Klein-Wien", zu einem
multi-ethnischen Zentrum. Es lebten hier Ukrainer, Rumänen,
Juden, Deutsche, Polen, Ungarn, Zigeuner, es wurden
mindestens vier Sprachen gesprochen. Ganz ähnlich wie
Paul Celan hat Rose Ausländer die spezifische Atmosphäre
ihrer Heimatstadt Czernowitz beschrieben: "Jene
besondere Landschaft. Die besonderen Menschen, Märchen
und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein. Das
viersprachige Czernowitz war eine musische
Stadt." Aus dieser "musischen Stadt"
gingen innerhalb weniger Jahre Dutzende deutsch
schreibender Schriftsteller, aber auch
Schriftstellerinnen hervor.
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Die Frauenliteratur der Bukowina ist ein weitgehend
unbekannter, doch faszinierender Aspekt dieser
reichhaltigen Literatur. Rose Ausländer, Selma
Meerbaum-Eisinger, Klara Blum, Else Keren, Johanna
Brucker, Elisabeth Axmann - diese Namen bilden die
deutschsprachige Literatur der Bukowina. Mit einem
geschlechtsspezifischen Bewusstsein haben diese
Autorinnen die Frau zum Gegenstand der Betrachtung gewählt.
Das gilt insbesondere für die deutsch-jüdische
Frauenliteratur. Von Rose Ausländer bis Klara Blum
dokumentieren jüdische Lyrikerinnen der Bukowina
immer wieder ihr mehrfaches Außenseitertum, ihr
Schicksal als Frauen, Jüdinnen, Dichterinnen. Sie
betraten die literarische Bühne zu einem Zeitpunkt,
als der Nationalsozialismus auch den Teil Europas
beherrschte, in dem sie lebten. Auch aus diesem Grund
hatten sie es besonders schwer sich durchzusetzen.
Eine weitere Komplikation auf ihrem literarischen Weg
mag darin bestehen, dass sie als schöpferische Frauen
von der konservativen jüdischen Gemeinschaft nicht
akzeptiert wurden. Die gesellschaftliche Vorstellung,
geprägt von der Religion, gönnte ihnen nur in der
Privatsphäre, als Ehefrauen und Mütter, eine Rolle.
Als Jüdinnen fühlten sie sich von der feindlichen,
rassistisch gesinnten Umgebung bedroht. Sie wurden vom
Ghetto ins Todeslager deportiert oder fanden, wenn sie
Glück hatten, kurzfristige Bleibe in verschiedenen
Verstecken und retteten sich ins Exil. So bildet die jüdische
Frauenliteratur der Bukowina die äußerste Grenze der
ausgegrenzten Bukowiner Dichtung.
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1. Selma Meerbaum-Eisinger. Ihr Leben und Werk.
Da die Bukowiner Dichtung außer Paul Celan und Rose
Ausländer selbst in literarischen Kreisen noch kein
entsprechendes Interesse gefunden hat, wird man
staunen, wenn man von der deutsch-jüdischen
Frauendichtung der Bukowina hört. Aber es gibt sie.
Und es ist eine Lyrik, die eindeutig einen wichtigen
Beitrag zur deutschen Poesie leistet. Es ist eine
Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein,
so schön, so hell und so bedroht. Eine der
Vertreterinnen dieser Dichtung ist Selma
Meerbaum-Eisinger. Von Selma Meerbaum-Eisinger sind
57 Gedichte überliefert, darunter 6 Übersetzungen,
und viel mehr hat sie vielleicht auch nicht
geschrieben, denn sie starb 1942, knapp 18 Jahre
alt, im deutschen Arbeitslager Michajlowka jenseits
des Flusses Bug. Selma konnte ihr Gedicht
"Tragik" nicht beenden, sie hat nur mit
rotem Stift zur ersten Strophe hinzugefügt:
"Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu
schreiben..." Wieviele vergleichbare Werke mögen
für immer verschollen sein – vielleicht gilt dies
ja schon für im Lager Michajlowka entstandene
Gedichte dieser Autorin. Wir wissen es nicht. Wir
wissen auch nicht, wieviel sie geschrieben hätte, wäre
sie nicht als Jüdin Opfer des Nationalsozialismus
geworden.
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Selma Meerbaum wurde am 15.08.1924 in einer
Familie deutschsprachiger Juden in Czernowitz
geboren. Selmas Vater, Max Meerbaum, starb 1926 in
Czernowitz mit 29 Jahren an Tuberkulose. Selma war
eineinhalb Jahre alt. Ihr Vater stammte aus einem
Dorf in der Bukowina. Nach der Volksschule, mit 15,
ging er nach Berlin, wo ein Onkel ein Geschäft besaß.
Im Ersten Weltkrieg kämpfte Max Meerbaum in der österreichischen
Armee und erkrankte an Tuberkulose. Nach seiner
Entlassung aus dem Krankenhaus beratschlagte die
Familie, was zu tun sei. Max ging nach Czernowitz,
um einen Laden zu eröffnen. Nach Czernowitz
deshalb, weil dort deutsch gesprochen wurde, obwohl
es ja nun zu Rumänien gehörte. In der Stadt fiel
ihm eine kleine Fensterauslage auf. Rechts lagen
Hefte, Zwirne, Nadeln, Kleinigkeiten. Links war
alles leer. Max ging hinein und fragte die junge
Frau, ob er die leere Hälfte mieten könne. Er
wolle dort Schuhe und Sandalen verkaufen. Die beiden
verliebten sich, heirateten und bekamen Selma. Nach
dem Tod Max Meerbaums heiratete dessen Witwe Frieda
einen Mann namens Leo Eisinger. Er kam wie Selmas
Mutter und Selma im Lager Michajlowka um.
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Renee Abramovici-Michaeli, eine Jugendfreundin
von Selma, erinnert sich an die Lebensumstände der
Familie Meerbaum-Eisinger:
Selma ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen.
Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater im
Süden der Stadt am Fuße der Habsburghöhe. Die
Wohnung bestand aus einer Küche und einem großen
Zimmer. Man ist reingekommen durch einen langen
Gang, ein paar Stiegen führten in den ersten Stock
direkt in die Küche. Elektrisches Licht gab es
nicht. Im großen Zimmer standen die Ehebetten. Am
Fußende ein Sofa, auf dem Selma schlief, dann zwei
Schränke und dazwischen ein kleiner Schreibtisch für
Selma. Kein fließendes Wasser, kein Bad. Was wissen
wir noch von Selma Meerbaum-Eisinger? Sie war 1,60
Meter groß, hatte braune Augen, gekräuseltes brünettes
Haar und ein großes literarisches Talent.
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2. "Und mache mich von der Wahrheit
frei."
Ihre Gedichte sind gereimt, strophisch, bis auf
wenige Ausnahmen metrisch regelmäßig gebildet. Ton
und Motive muten vertraut an, man meint, sie aus der
romantischen Lyrik, vor allem aber vom frühen
Hofmannsthal und Rilke, teilweise auch aus dem
Expressionismus zu kennen. Von Sehnsucht, Weh und
Trauer, von Weinen, Träumen, Nacht und zuweilen
auch vom Sterben ist da die Rede. Entscheidend ist
allerdings, dass diese Stimmungen an dingliche
Motive geknüpft werden, die regelmäßig sinnlich
angeschaut und real beschrieben werden. Kastanien,
welke Blätter, Farben in der Natur, Bäume, Blumen
und Blüten aller Art, synchrone Jahreszeiteindrücke,
Wolken und immer wieder: der Regen, der Regen. Man
kann vermuten, sie finde in der Natur Zuflucht vor
der Wirklichkeit, vor der Grausamkeit, vor dem Tod.
Den Hass und die Gewalt des Krieges kann diese junge
Frau für sich nicht erklären. Deshalb versucht sie
in der Natur Harmonie und Ausgeglichenheit zu
finden. Selma sucht eine andere Wirklichkeit, sie
schafft sie selbst in ihren Gedichten. Man könnte
sagen, sie übersiedelt in eine andere Realität,
bewegt sich im Raum ihrer Träume:
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Ich wiege und wiege und wiege mich ein
Mit Träumen bei Tag und bei Nacht
Das schreibt sie in ihrem Gedicht "Schlaflied für
mich". Es sind keine normalen Träume, im
Schlaf, sondern Träume, die als bewusstes Negieren
der Wirklichkeit funktionieren. Die Autorin befindet
sich in einer Art Identitätskrise: Einerseits will
sie die Gegenwart nicht akzeptieren, von der Zukunft
kann keine Rede sein, und andererseits versteht
Selma, dass auch die Vergangenheit nicht mehr zurückkehren
wird:
Ich spiele und spiele mir die Melodei
Der Tage, die nicht mehr sind.
Diese "Melodei" ist ein Zeichen der
Hoffnung, die der junge Mensch selbst angesichts des
schlimmsten Greuels nicht aufgeben will. Die Autorin
verleugnet ihre Realität:
Und mache mich von der Wahrheit frei
Und tue, als wäre ich blind.
.........
Und spinne doch Träume, so wirr und so kraus.8
Parallel mit dem Wort "Träume" wird sehr
oft das Wort "Nacht" gebraucht.
"Nacht" bedeutet für sie die Dunkelheit
der Wirklichkeit. Innerhalb der jüdischen Religion
findet sich die Auffassung, dass das Materielle, das
Böse nicht ein Etwas an und für sich ist, sondern
nur ein Mangel an göttlichem Licht, an reinem
Sein.9 Dieses "reine Sein" versucht die
Autorin transzendent zurückzugewinnen. Die Übersiedlung
in die andere Wirklichkeit geschieht in Träumen,
durch die Beobachtung der Natur. Die Natur als
Gottes Schöpfung mag hier für eine gewünschte
Weltordnung stehen und befindet sich in Opposition
zur Realität. Selma entwickelt eine enorme
Sensibilität bei der Beobachtung der Natur, die
beinahe mystifiziert wird. Im Gedicht "Welkes
Blatt"10 haben wir eine sehr präzise und einfühlsame
Beschreibung eines Blattes:
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Auf der halbvergilbten Seite
Liegt das dünne, gelbe Blatt,
liegt es traurig, zart und matt
wie ein Tränenblick ins Weite.
Das ist ein trauriges Bild. Die Adjektive "dünn",
"gelb", "zart", "matt"
verraten die Stimmung der Autorin. Vielleicht
identifiziert sie sich mit diesem Blatt. Es ist ein
Teil des Baumes, und der Baum hat eine sehr große
Bedeutung in der jüdischen Mystik, wird als Symbol
für die ganze Welt verstanden. Da die Blätter
abfallen, droht Gefahr:
Und der Stengel ist so biegsam zart,
dass man fast des dünnen Kleides harrt,
das diese Gestalt bekleiden soll.
Stillleben - nature morte - werden vorgeführt, die
dann freilich - und hier wird ein erstes Spezifikum
von Selma Meerbaum-Eisingers Gedichten deutlich -
ihre "Stille" verlieren, sich plötzlich
beleben können - durch die Einbildungskraft, die
Lebensfreude einer sehr jungen Frau. Selma
Meerbaum-Eisinger ist eine Dichterin, die durch die
Natur geht, hört, sieht, schmeckt und atmet, kurz:
Die sie nicht nur visuell, sondern mit allen ihren
Sinnen aufnimmt und wiedergibt. In den Worten von
Hersch Segal: "Ihr Dichten ist wahrhaftig. Ihr
Körper, ihr Gang, ihre Haare, ihr Mund, ihr Lachen
sind mit dabei"11. Die Natur ist ihr
sinnlich-lebendiger Spiegel, ein Dialogpartner, der
ihre eigenen Empfindungen deutlicher hervortreten lässt.
Der Umgang mit der Natur mindert ihre Vitalität
nicht, er kräftigt sie. Die sinnlich-lebendige
Anmutung, die von den Gedichten ausgeht, wird oft
noch dadurch gesteigert, dass sie explizit an ein Du
- das des Geliebten Lejser Fichman - gerichtet sind,
also nicht monologisch, sondern dialogisch,
kommunikativ. Die immer wieder beschworene
"Sehnsucht" als Grundgefühl der Autorin
ist hier keine unproduktiv leerlaufende Empfindung.
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