16 | 05 | 2014 | DIETMAR SCHMIDT (Erfurt)
10:30-11:30 Uhr
Umblättern statt lesen. Philologie und Idiosynkrasie bei Thomas Bernhard
Der Titel des Vortrags zitiert den Musikphilosophen Reger aus Thomas Bernhards Alte Meister. Sein Umgang mit Büchern ist der »eines hochgradig talentierten Umblätterers, eines Mannes, der lieber umblättert als liest«. Damit wird zweierlei akzentuiert: einerseits der geradezu philologische Hinweis auf das Umwenden von Buchseiten als einer Kulturtechnik, die in der Erinnerung des Gelesenen scheinbar spurlos verschwindet und deren Effekte daher im Gegenzug genauestens mitgelesen werden müssen; andererseits aber schlicht das idiosynkratische Moment der Entscheidung, die bestimmt, wo die affektgeladene Geste des Blätterns das Lesen gänzlich verhindert. Dass Philologie und Idiosynkrasie – die peinliche Genauigkeit des Lesens und des Nichtlesens – im Umblättern technisch koinzidieren, kann bei Bernhard als exemplarischer Auslösungsmechanismus literarischen Schreibens und als Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit anderen künstlerischen und medialen Praktiken betrachtet werden.
CV
Dietmar Schmidt ist Akademischer Rat und Privatdozent für Neuere deutsche sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Er forscht u. a. zu Verhältnissen von Poesie und Wissen, zu Repräsentationsformen des Animalischen und zu Medienkonstellationen von Literatur und Film.
Publikationen (Auswahl)
Geschlecht unter Kontrolle. Prostitution und moderne Literatur. Freiburg i. Br.: Rombach 1998.
Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen. München: Fink 2011.