Das Center for the Study of Traditional Chinese Cultures
Konzept und Strategie
Die Kultur oder die Kulturen Chinas? Ist nicht eigentlich immer nur von „der chinesischen Kultur“ die Rede? Ein kritischer Blick auf diese vermeintliche Singularität wirft wichtige Fragen auf: Seit wann gibt es das kulturell geeinte China überhaupt? Wie verschieden waren z.B. die Kulturen der Streitenden Reiche (Zhanguo 戰國, 5. Jh.–221 v. Chr.)? Wie verhielt es sich mit den entlegeneren Regionen wie den sogenannten „Westgebieten“ (Xiyu 西域), die erst im Kaiserreich zum „Reich der Mitte“ hinzutraten? Verband all diese Gebiete über die Jahrhunderte nur eine einzige Kultur?
Faktisch bezeichnete der Begriff Zhongguo 中國, der heutzutage die geläufige Bezeichnung Chinas ist und mit „Reich der Mitte“ übersetzt wird, ursprünglich nicht ein einziges Reich, sondern die „Länder der Mitte“. In dieser Bedeutung ist der Begriff bereits in einer Bronzeinschrift der frühen Westlichen Zhou-Dynastie (ca. 1000 v. Chr.) belegt. Wenn also antike Schriften wie das Liji 禮記, die Aufzeichnungen der Riten, auf Zhongguo Bezug nehmen, ist hier mitnichten die Rede von „China“, dem einen „Reich der Mitte“, sondern von – auch kulturell – diversen „Ländern der Mitte“. Ein Blick in Texte der so genannten Südkulturen zeigt uns, dass eben diese Länder auch als shangguo 上國, „die Oberen [i.e. nördlicheren] Länder“, bezeichnet werden. So wird z.B. im Werk Guoyu 國語, den Gesprächen der Länder, berichtet, dass man diese „oberen Länder“ zwar erobern, aber niemals dort leben oder ihre Wagen fahren könne. Offensichtlich lag hier also keine Selbst-Identifikation im Sinne eines homogenen Kulturraums vor. Wann und warum also wurde aus dem Plural ein Singular? Warum dominiert das Narrativ von der einen traditionellen Kultur Chinas? Erst ein unvoreingenommener Blick auf die chinesische Begriffsgeschichte eröffnet Perspektiven auf diese subtilen, aber entscheidenden Unterschiede, die gerade heute an Bedeutung gewinnen.
Fragen wie diese sind es auch, die uns die hohe Relevanz einer unbefangenen Sicht auf kultur-, literatur- und sprachwissenschaftliche Forschungsfragen der Sinologie in der heutigen Zeit direkt vor Augen führen. Mit Blick auf das historisch gewachsene Einflussgebiet des chinesischen Kulturerbes, das sich über Japan und Korea bis hin nach Vietnam erstreckt, sowie die hierin weit verbreitete Verwendung des Klassischen Chinesisch (wenyan 文言) als schriftsprachliche lingua franca umfasst das Forschungsfeld des CSTCC auch die transkulturelle Perspektive auf diese Kulturräume. Durch die internationale Vernetzung in einem „Knowledge Network“ mit den Universitäten Oslo, Princeton, Kyōtō, Shanghai Jiaotong und Zhengzhou werden auch diese zusätzlichen Quellen in einem größeren ostasienwissenschaftlichen Rahmen erschlossen.
Das Forschungsspektrum des CSTCC umfasst zum Beispiel die antiken chinesischen Wirtschaftstheorien wie auch ihre Bedeutung für die heutige internationale politische Ökonomie der VR China: Fragestellungen mit Bezug zum China der Gegenwart sind in ihren gesamten Implikationen und in ihrem vollen Ausmaß nur dann zu verstehen und zu beantworten, wenn sie im Kontext ihrer historisch-diachronen Entwicklung betrachtet werden. Auch scheinbar „moderne“ Konzepte lassen sich bei genauerer Betrachtung häufig auf vormoderne Vorläufer zurückführen. Es sind diese intrikaten Verbindungen, die das CSTCC durch seine Arbeit aufdecken will, um damit zu zeigen, dass ein tiefergehendes Verständnis des modernen China ohne ein grundlegendes Verständnis der Vormoderne kaum möglich ist.
Dieses Verständnis erfordert notwendigerweise die Erforschung zentraler semantischer Felder, nicht nur hinsichtlich der Wirtschaftstheorie: besondere Schwerpunkte bilden im CSTCC die historische Semantik der „Abhängigkeit“ (in Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster „Beyond Slavery and Freedom: Asymmetrische Abhängigkeiten in vormodernen Gesellschaften“ der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn), der „Macht“ und „Herrschaft“ (in Kooperation mit dem Sonderforschungsbereich 1167 „Macht und Herrschaft – Transkulturelle Konfigurationen in Vormoderner Perspektive“, Universität Bonn) sowie die Begriffsgeschichte der „Schuld“ und der „Liebe“. Mit diesen Forschungsschwerpunkten trägt das Zentrum unmittelbar zur sinologischen Grundlagenforschung und einem differenzierten Chinaverständnis bei.
Zentraler Forschungsgegenstand in diesen Projekten ist das Klassische Chinesisch, auch wenyan 文言 genannt: die klassische Schriftsprache Chinas, die bis heute im modernen Chinesisch weiterlebt. Diese Sprache, die – vergleichbar dem Lateinischen in Europa – im ostasiatischen Wirkungskreis chinesischer Konzepte als eine lingua franca diente, bildete die Grundlage für einen weitreichenden transkulturellen Austausch: Da es sowohl in Japan und Korea als auch in Vietnam über Jahrhunderte für Verschriftungen jedweder Art genutzt wurde, bietet es eine Gelegenheit sui generis zur interkulturellen Erforschung von Konzepten. Wie haben sich Konzepte, die ursprünglich aus dem chinesischen Raum stammten, in Korea und Japan weiterentwickelt? Wurden vielleicht sogar völlig neue Konzepte außerhalb Chinas entwickelt und in verschrifteter Form nach China re-importiert? Ein illustratives Beispiel hierfür ist das moderne chinesische Wort für „Wirtschaft“, jingji 經濟. Dieser Begriff ist schon seit dem vierten Jahrhundert n. Chr. in der klassischen Schriftsprache belegt. Zu dieser Zeit bezeichnete er jedoch noch nicht die Wirtschaft, sondern war eine Kurzschreibung der ordnungs- und wohlfahrtspolitischen Maxime jing guo ji min 經國濟民, „das Land ordnen und das Volk retten“. Diese Kurzschreibung wurde in Japan übernommen und erhielt einige Jahrhunderte später in ihrer japanischen Lesung keizai unter dem Einfluss westlichen Wirtschaftsdenkens die Lehnbedeutung „Ökonomie“. Diese neue Bedeutung eines schon lange vorhandenen Wortes wurde im späten 19. Jahrhundert wiederum in China übernommen, um ebenfalls auf den Begriff der Wirtschaft zu referieren.
Von den genannten kultur- und wirtschaftshistorischen sowie sprach- und begriffsgeschichtlichen Fragen abgesehen, befasst sich das CSTCC zudem mit der Didaktik des Klassischen Chinesisch: Die intensive Auseinandersetzung mit dem Klassischen Chinesisch im CSTCC mündet in der Erarbeitung eines die oben genannten transkulturellen Perspektiven berücksichtigenden Lehrgangs. Als internationaler Knotenpunkt wissenschaftlichen Austauschs zum Klassischen Chinesisch wird am CSTCC außerdem eine Schnittstelle von neuesten Erkenntnissen aus dem Bereich der Sprachwissenschaft und Didaktik geschaffen. Zudem wird eine Digitalisierung des im Unterricht erprobten Lehrgangs für das Klassische Chinesisch angestrebt: Studierende sollen durch innovative eLearning-Angebote die Möglichkeit erhalten, an der Übersetzung bisher unübersetzter vormoderner Texte direkt mitzuwirken. Studierende werden somit unmittelbar an sinologische Grundlagenforschung herangeführt.
Eine zentrale digitale und methodische Grundlage für die Erforschung dieses hier umrissenen Spektrums bildet der Thesaurus Linguae Sericae: An Historical and Comparative Encyclopaedia of Chinese Conceptual Schemes, kurz: TLS (zu einer genauen Beschreibung des TLS vergleiche „Projekte“).
Für eine ausführlichere Darstellung des Konzeptes des CSTCC vergleiche auch „Konzept und Strategie eines sinologischen Forschungszentrums an der Ruhr-Universität Bochum“.