Als „Rattenlinie“ wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die über Österreich und Italien nach Südamerika oder in verschiedene arabische Staaten des Nahen Ostens führende Fluchtrouten bezeichnet, über die zahlreiche Mitglieder der ehemaligen NS-Elite des Dritten Reiches, darunter auch gesuchte Kriegsverbrecher, ins Ausland flohen und somit einer Strafverfolgung entgingen. Doch nicht nur Deutsche, auch Kollaborateure anderer Staaten nutzen diesen Weg, um sich nach 1945 ein neues Leben aufzubauen.
Eine zentrale Rolle für das erfolgreiche Gelingen der Flucht aus Europa spielten dabei mehrere Angehörige der katholischen Kirche, die den Flüchtenden gefälschte Pässe oder Pässe des Roten Kreuzes zur Verfügung stellten, mit denen eine reibungslose Ausreise gewährleistet wurde. Zu einem wichtigen Umschlagplatz für neue Reisepapiere wurde die italienische Stadt Genua, in der mehrere Agenten des CIC 1947 einen Selbstversuch durchführten und sich dabei überrascht zeigten, wie schnell neue Reisepässe zur Verfügung gestellt werden konnten.
Inwieweit die CIA in späteren Jahren in die Organisation der Fluchtrouten involviert war und diese möglicherweise auch finanziell unterstützte, lässt sich auf Grund der fehlenden Unterlagen heute nicht mehr mit Gewissheit feststellen. Sicher ist allerdings, dass der Dienst über die „rat lines“ im Detail informiert war und diese – anstatt eine Flucht gesuchter NS-Verbrecher zu verhindern – selber nutzte, um Informanten in Sicherheit zu bringen. So reiste der in Frankreich als Kriegsverbrecher gesuchte Klaus Barbie 1951 mit Hilfe der CIA über Italien nach Bolivien weiter. Auch dem SS-Arzt Josef Mengele und Adolf Eichmann gelang über Österreich und Italien die Flucht nach Lateinamerika.
Während die zentrale Rolle einzelner Bischöfe in die Organisation dieses professionellen Fluchtnetzwerkes heute unumstritten belegt ist, bleibt die Rolle des Vatikans in dieser Angelegenheit auf Grund der mangelnden Aktenlage ungewiss. Offenbar war Papst Pius XII. über die Vorgänge in weiten Teilen informiert und ließ einem der beteiligten Fluchthelfer Ende der 1940er-Jahre auch einmal einen größeren Geldbetrag zukommen. Darüber hinaus bleibt seine Rolle jedoch umstritten.
Die katholische Kirche wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von ähnlichen Sorgen geleitet wie der CIC und die CIA: Mehr noch als die Nationalsozialisten fürchtete man eine Einflussnahme durch die Sowjetunion und hoffte, dass die geretteten NS-Eliten als Bollwerk gegen den Kommunismus dienen würden. Die lateinamerikanischen und arabischen Zufluchtsländer wiederum hofften, von dem technischen sicherheitsrelevanten Wissen der Flüchtenden profitieren zu können.
Weiterführende Literatur:
Rena GIEFER, Thomas GIEFER: Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis. Eine Dokumentation, Weinheim 1995.
Peter HAMMERSCHMIDT: Deckname Adler. Klaus Barbie und die westlichen Geheimdienste, Frankfurt am Main 2014.