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Promotionskolleg Ost-West
Lotman-Institut und
Institut für Deutschlandforschung |
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Monika Tokarzewska
DIE ENTSTELLTE SPRACHE. Über Walter Benjamins
Berliner Kindheit um neun-zehnhundert
Einem aufmerksamen Leser der Berliner Kindheit um
neunzehnhundert wird sicherlich ein Motiv
auffallen: die Ähnlichkeiten im Klang gewisser Wörter.
Diese Ähnlichkeiten machen sich zufällig
bemerkbar und sind schwer zu objektivieren.
Zugleich ist Walter Benjamin der Meinung, dass
sich die Erfahrung heutzutage gerade in solchen flüchtigen
Phänomenen niederschlägt. Das Interesse an der
Sprache, die einerseits der menschlichen Privatsphäre
angehört, andererseits ein gesellschaftliches Phänomen
ist, begleitete Benjamin seit den Anfängen seines
Schaffens. Ich stelle hier die These vor, dass
derjenige, der sich an dem Leitfaden der Sprache
in Berliner Kindheit um neunzehnhundert führen lässt,
sich bald mit einem der wesentlichen Probleme in
Benjamins Denken wird auseinandersetzen müssen:
mit dem Zusammenhang zwischen dem Individuellen
und dem Allgemeinen. Unter den Bruchstücken des
Vergangenen, die die Welt der Berliner Kindheit
ausmachen, fällt den Wörtern ein besonderer
Platz zu. Es sind Straßennamen, Sprüche,
einzelne Verse von Kindergedichten und Fragmente
von einst mitgehörten Gesprächen. Meistens
bleiben sie wegen irgendeiner Entstellung in
Erinnerung; sie entsprangen einem Sich-verhört-
oder Sich-versprochen-Haben. Das benjaminsche Wort
"Entstellung", das er fast zu einem
Begriff geschmiedet hat,
| kann man als
"Deformierung" verstehen, in dem Wort
schwingt jedoch auch die Bedeutung von "sich
von seiner Stelle losreißen" mit.
"Entstellung" beschreibt also den
Zustand, in welchem sich Dinge befinden, die nicht
mehr an ihrer Stelle sind. Infolge der Entstellung
entstehen neue und unerwartete Zusammenhänge
zwischen den Dingen. Wer nach dem Sinn dieser
Zusammenhänge sucht, erinnert an jemanden, der Rätsel
zu lösen sucht. Im Kapitel "Zwei Rätselbilder"
birgt ein Vers aus Schillers Wallenstein, welchen
das Kind in der Schule zu hören bekam und nicht
verstehen konnte, plötzlich ein Geheimnis in
sich, das Versprechen eines tiefen Sinns, den der
Junge erst in weiter Zukunft, als Erwachsener,
begreifen wird. Zwischen diesem Vers und der
Gestalt einer im Kindesalter verstorbenen
Schulgenossin besteht ein versteckter
Zusammenhang. Anderswo (im Kapitel "Steglitzer
Ecke Genthiner") wird die Straße, die nach
Steglitz benannt wurde, zur "Stieglitzerstraße".
Der Erzähler spricht von dieser Straßenecke:
"Denn damals hieß sie [die Straße, M. T.]
mir noch nicht nach Steglitz. Der Vogel Stieglitz
schenkte ihr den Namen. Und hauste nicht die Tante
wie ein Vogel, der reden konnte, in ihrem
Bauer?" Ähnlich klingt auch die Erklärung
zum Platz der Großmutter im Kapitel "Blumeshof
12": "Übrigens hieß es nicht
Blumes-Hof, sondern Blume-zoof, und es war eine
riesige Plüschblume, die so, aus krauser Hülle,
mir ins Gesicht fuhr." Die Entstellung,
welche hier dem alltäglichen Usus der Sprache
entspringt, entpuppt sich als ein einen
verborgenen Sinn enthaltendes Rätsel.
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Von der Machtposition der Mutter,
die sich abends gern mit Nähen beschäftigt,
zeugt die Anrede, mit der sich die Dienstmägde an
sie wenden: "Wenn ich [...] [den Fingerhut]
auf den Finger schob, begriff ich, wie meine
Mutter für die Mädchen hieß. Sie meinten
"gnädige Frau", verstümmelten jedoch
das erste Wort; lange glaubte ich, daß sie Näh-Frau
sagten." Dem die nähende Mutter
beobachtenden Kind kommt das
"Schneewittchen" der Gebrüder Grimm in
den Sinn. Das einst gehörte oder gelesene Märchen
bereitet die Szenerie vor, in der es für den
Jungen kaum möglich ist, sich nicht verhört zu
haben. Die entstellte Anrede, die er vernimmt,
entspricht der Erwartung, die das Märchen mit
sich bringt. Dies und die Wirklichkeit ergänzen
sich und bestätigen einander, weil die sonst
unverständliche Anrede sich im Lichte der
Schneewittchen-Geschichte als sinnvoll darstellt
und das Märchen umgekehrt plötzlich einen
aktuellen Bezug zum Leben bekommt. Zusammen machen
sie die Welt voll Sinn für das Kind.
| Die Welt umschließt
das Kind, und sie schließt es innerhalb einer
eigenartigen Ganzheit voller Korrespondenzen ein.
Im Kapitel "Mummerehlen" ist das
Missverstehen eines Wortes aus altem Kindervers
die Ursache einer bedeutungsträchtigen
Entstellung: "Muhme" wird durch
"Mumme" ersetzt, was sich von dem Verb
"mummen" herleiten lässt. Das Missverständnis
wird zum Ansatzpunkt für eine für die ganze
Berli-ner Kindheit wesentliche Reflexion: "In
einem alten Kinderverse kommt die Muhme Rehlen
vor. Weil mir nun "Muhme" nichts sagte,
wurde dieses Geschöpf für mich zu einem Geist:
der Mummerehlen. Beizeiten lernte ich es, in die
Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen.
Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja
nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten
Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten.
Den übten Worte auf mich aus. Nicht solche, die
mich musterhaften Kindern sondern Wohnungen, Möbeln,
Kleidern ähnlich machten." [...]
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Letzte Änderung: 05.09.2003 | Ansprechpartner/in: Inhalt
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