|
DIE PHILOSOPHINForum für feministische Theorie und PhilosophiePhilosophin 28 Intersexualität und Geschlechterstudien Einleitung
Unser Schwerpunkt zu Intersexualität thematisiert
bewusst nicht die Auseinandersetzung
um Intersexualität als „medizinisches Syndrom“ und die schwerwiegenden medizinethischen
Probleme, die die Behandlung von Intersexuellen aufwirft. Der Schwerpunkt
thematisiert Intersexualität als Thema der Geschlechterstudien. Brauchen
wir wirklich ein wahres
Geschlecht?“ Mit dieser Frage beginnt Michel Fou-cault sein Vorwort zu den
von ihm herausgegebenen Erinnerungen des französischen Hermaphroditen
Herculine Barbin, und er fährt fort: „Mit einer Beharrlichkeit, die an
Starrsinn grenzt, haben die Gesellschaften des Abendlandes dies bejaht.
Hartnäckig haben sie diese Frage nach dem „wahren Geschlecht“ in einer
Ordnung der Dinge ins Spiel gebracht …“1 Die Frage stellte
Foucault in den 1960er Jahren im Kontext seiner historischen Arbeiten über
die Geschichte der Sexualität. In den Aufzeichnungen von Herculine Barbin
wird die gewaltsame Durchsetzung des normativen asymmetrischen komplementären
Zweigeschlechter- und Zweikörpermodells und die Sexualisierung der Körper-
und Lebensverhältnisse im 19. Jahrhundert als tödlich endende
Leidensge-schichte erzählt, die Barbin am eigenen Leib erfährt. Der Text ist
ein Zeugnis der Ohn-macht gegenüber der medizinisch-juristischen
Ordnungsmacht, die ein wahres Ge-schlecht erzwingt. Darüber hinaus macht der
Text aber auch die fundamentale Verun-sicherung der Menschen sichtbar, die
Herculine Barbin umgeben. Diese
Verunsicherung ist kein überwundenes Phänomen des 19. Jahrhunderts. Sie ist
vielmehr auch heute in der Begegnung von Eltern mit ihrem intersexuellen Kind
und im direkten Umgang des ärztlichen Personals mit intersexuellen Menschen
in der medi-zinischen Praxis ebenso greifbar wie in der Arbeit von
WissenschaftlerInnen im Pro-blemfeld der medizinischen Ethik und in den
aktuellen Diskussionen über Intersex in der Geschlechterforschung. Die
Geschichte des Umgangs mit Intersexuellen erzählt eine Geschichte der Abwehr
von Verunsicherungen eigener (Geschlechts-)Identität, für die das eine wahre
Körpergeschlecht als eines von zwei möglichen die Voraussetzung zu sein
scheint. Foucaults nicht nur rhetorische Frage setzt bereits eine andere
voraus, die Frage nämlich, was denn ein Geschlecht zu einem wahren mache. Das
Wissen um die Möglichkeit historisch und kulturell unterschiedlicher
Antworten enthebt diejenigen, die fragen, die mit der Uneindeutigkeit eines
anderen konfrontiert sind, nicht der Frage, die sich auf das eigene
Geschlecht richtet. Wird aber das eigene Geschlecht nicht mehr als sicher
gewusst, weil bei aller Unbestimmtheit dessen, was ein Geschlecht ausmacht,
doch eines natürlich sicher scheint, nämlich eines von zweien, eindeutig
männlich oder eindeutig weiblich zu sein, dann gerät das Wissen von sich
selbst in einen Schwindel, der zutiefst verunsichert. Verunsichert nicht nur,
weil Uneindeutigkeit Angst macht, sondern weil damit zugleich eine bestimmte
Ordnung des Wissens, der Dinge und des Begehrens in Frage steht. Nun hat
die westliche feministische Theorie die als natürlich geltende asymmetrische
Geschlechterordnung in den Human- und Naturwissenschaften in den letzten
Jahr-zehnten vielfältig in Frage gestellt und versucht, die
Konstitutionsbedingungen von Ge-schlechtsidentitäten innerhalb dieser
Ordnungen aufzuzeigen. Dabei wurden, wie Gabriele
Dietze in ihrem Text Allegorien der
Heterosexualität herausarbeitet, bis in die jüngste Zeit das moderne
„Konzept der Zweigeschlechtlichkeit als Zweikörper-lichkeit“ nicht
angetastet. In ihren Überlegungen zeigt Dietze die Herausforderung auf, die
„die Problematisierung der Zweigeschlechtlichkeit für die Kategorie Gender“
be-deutet. Und in ihrer Arbeit über Intersexualität befragt sie „das
Zeichensystem der Ge-schlechtskorrekturen vor allem an intersexuellen Kindern
daraufhin, was in dem (medi-zinischen) Vereindeutigungsprozess hergestellt
wird.“ „In den letzten Jahrzehnten (war) vorwiegend die Herstellung
symbolischer Heterosexualität“ das Ziel, für das die be-troffenen Kinder
traumatisierenden chirurgischen und hormonellen „Behandlungen“ unterworfen
wurden. Ihre Frage, warum es nur zwei kulturelle Geschlechter geben kann, die
an zwei genau bestimmte Körper gebunden sind, führt sie weiter zur Frage
danach, wie eine Mehrgeschlechtlichkeit gedacht werden kann, ohne sie
sogleich wieder in ein neues Klassifikationssystem zu überführen. Sie
verweist dabei auf den Text der us-amerikanischen Biologin und
Geschlechtertheoretikerin Anne
Fausto-Sterling „The five sexes“. Im Gespräch mit der Philosophin betont Anne Fausto
Sterling selber die Ge-fahr des Reduktionismus, die in ihrer ersten
Intervention „The five sexes“ gegen das Zweikörpermodell liegt. Doch
unterstreicht sie trotz ihres Eintretens für eine massive Kritik am
Zweikörpermodell und an der Heteronormativität die entscheidenden Zwänge
physischer, psychischer, gesetzlicher und gesellschaftlicher Art, denen die Einzelnen
und vor allem Intersexuelle innerhalb einer medizinischen
Normalisierungspraxis aus-gesetzt sind. Zwänge, zu denen die Wirklichkeit des
Körpers mit all seinen Variations-möglichkeiten auch gehört und die, so
Fausto-Sterling, verhindern, dass Menschen je ihr Geschlecht frei wählen
können. Welche
Rolle in nichtwestlichen Kulturen Intersexualität spielt, und ob die Annahme
natürlicher Zweigeschlechtlichkeit universalisierbar ist, dieser Frage geht Susanne Schröter in ihrem Beitrag Intersexualität als soziale Kategorie
nach. Auf den ersten Blick scheint alles anders. Der Vorrang der
medizinischen Interpretations- und Normali-sierungsmacht westlicher Kulturen,
die Intersexualität negativ und pathologisch beset-zen, zeigt sich im
Kulturvergleich – Schröter beschreibt u.a. das Leben und die
gesell-schaftliche Stellung der Hijras in Indien – als begrenzt.
Intersexualität kann in anderen Kulturen als der westlichen „als eigene
Kategorie anerkannt, ja sogar in bestimmten Kontexten privilegiert, teilweise
sogar künstlich herbeigeführt werden“. Die Lebens-wirklichkeit der
Intersexuellen verweist aber auch dort, so Schröter, auf eine sehr rigide
Geschlechterordnung. Diese Geschlechterordnung wird nicht in Frage gestellt,
sondern vielmehr, so Schröter, zementiert. Ein
gelungenes Beispiel einer fiktional gestalteten Infragestellung der binären
Ge-chlechterordnung stellt Eveline
Kilian in ihrer Lektüre des Romans von Leslie Feinberg, „Stone Butch
Blues“ vor. Zwar weist ihre Untersuchung literarischer Transgenderkon-figurationen
auf ein zentrales Problem dieser Kritik (nicht nur der
literaturwissenschaft-lichen) hin, nämlich auf die Schwierigkeit – auf der
epistemologischen Ebene – dem kategorialen Bezugssystem der beiden
Geschlechter mit dem „transgender“-Begriff sprachlich zu entkommen. Kilian
zeigt jedoch in ihrer Analyse der literarischen Fiktion einer fragilen
Identitätskonstruktion, dass Literatur „als Herausforderung an die
alltags-weltliche Konfiguration von Geschlecht und Sexualität“ in der
Veruneindeutigung von Geschlechterbinarität eine große Bedeutung zukommt. Auf
eben diesen Stellenwert der Literatur für die Entwicklung von „antinormativen
Inszenierungen heterosexueller Identi-täten“ weist auch Annette Schlichter hin. In ihren Überlegungen zur kritischen Analyse der Heterosexualität im Rahmen
queerer gender studies zielt sie auf einen Schlüssel-begriff der
Intersexualitätsdiskussion innerhalb der Geschlechterstudien. Als normativ
verstandene liegt Heterosexualität im Zentrum der medizinischen
Normalisierungs-eingriffe in den intersexuellen Körper. Dies hat zur Folge,
dass die Heterosexualität mit brachialen Mitteln geschützt wird. Konkret
heißt das, dass komplementäre Ge-schlechtskörper, in der Regel weibliche,
durch operative Eingriffe im Kindesalter künstlich hergestellt werden. Die
Heterosexualität bildet zugleich den Rahmen, der Normalität und Anormalität
trennt, und wird doch zugleich mit Hilfe der Rhetorik von Schutz, Heilung und
Hilfe unter großem Leid für die Betroffenen erst hergestellt. Wird die Normativität
der Heterosexualität durch medizinische Praxen festgestellt, so hat auch die
feministische Theorie, wie Annette Schlichter deutlich macht, zum
apotropäi-schen Schutz der Heterosexualität beigetragen. Um nun jedoch nicht
ins Gegenteil zu verfallen und die Heterosexualität ihrerseits zu verwerfen,
schlägt Annette Schlichter vor, die Relation von Geschlecht und Sexualität
anders zu denken und damit die „Machtkonfiguration Heterosexualität“ zu
dekonstruieren. Die
Texte von Robert Stoller und John Money, beide führend in der Behandlung von
intersexuellen Kindern ab den 1950er Jahren, haben eine nicht zu
unterschätzende Wirkung auf die Überzeugungen der feministischen
Theoretikerinnen der zweiten Frauenbewegung gehabt. Intersexualität
ist so auch aus wissenschaftshistorischen Gründen ein zentrales Thema der
Geschlechterforschung. Doch so
begründet die Beschränkung unseres Themenschwerpunktes auf „Intersexuali-tät
in der Geschlechterforschung“ auch ist, die Fragen von Emi Koyama und Lisa Weasel
weisen auf die Gefahr hin, dass Intersexuellen auch in der
Geschlechter-forschung nicht der nötige Raum für eine eigene Artikulation
zugestanden wird. In ihrem Artikel werten die beiden us-amerikanischen
Wissenschaftlerinnen eine internetba-sierte Evaluation von Lehrenden zu
Intersex aus und stellen einen ethischen Richtlinien-katalog für die Lehre
auf. Diese Richtlinien sollen verhindern, dass die Lebenswirklich-keit der
Betroffenen und ihre Perspektive hinter den geschlechtertheoretischen
Überle-gungen unsichtbar werden. Die
Literaturliste am Schluss des Rezensionsteils ist im Kontext eines Workshops:
„Intersex. Perspektiven von Geschlechterforschung und Ethik“ am
Arbeitsbereich Ge-schlechterstudien des Interfakultären Zentrums für Ethik in
den Wissenschaften der Universität Tübingen entstanden, auf den ein kurzer
Kongressbericht hinweist. Die Li-teraturliste erhebt keinen Anspruch auf
Vollständigkeit. Alle Titel sind in der wissen-schaftsethischen
Spezialbibliothek des Ethikzentrums vorhanden. Die Herausgeberinnen 1 Herculine
Barbin, Michel Foucault, Über
Hermaphrodismus, Wolfgang Schäffner, Joseph Vogl (Hg.), Frankfurt a. M.
1998, S. 7.
|
|