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DIE PHILOSOPHINForum für feministische Theorie und PhilosophiePhilosophin 27 Gerechtigkeit konkret Einleitung
In einer ausführlichen Würdigung der neueren
philosophischen Publikationen zur Frage der Gerechtigkeit zog Thomas Assheuer
vor kurzem den Schluss: „Wenn es stimmt, dass Ausschluss und Ausgrenzung,
also das ‚Überflüssigwerden‘ von Bevölkerungsgruppen das
heimliche Drama der Gegenwart ausmacht; wenn es stimmt, dass das
Politikerversprechen auf Vollbeschäftigung Schwindel ist – dann mangelt
es den klassischen Verteilungstheorien schlicht an Realitätsbezug.“1 Das meint nicht, dass die Diskussionen zu einer
philosophischen „Theorie der Gerechtigkeit“, wie sie John Rawls
in seinem 1971 erschienenen gleichnamigen Buch begründet und bis hin zu den
Entwürfen seiner Kritiker Michael Walzer, Michael Sandel, Charles Taylor,
Harry Frankfurt u.a. geprägt hat, zuwenig scharfsinnig seien. Es heißt
jedoch, dass sich die Realität, auf die sie sich beziehen, nicht mit jener
deckt, die uns die Frage nach einer möglichen Gerechtigkeit in neuer
Dringlichkeit aufgibt. Assheuer führt die Realitätsferne der
Gerechtigkeitstheorien, die Gerechtigkeit vor allem als eine Frage der
gerechten Verteilung von Gütern konzipieren, auf das Schwinden, bzw. den „Umbau“
des Sozialstaats zurück. Wenn, so lautet sein Argument, der entscheidende
Kampf nicht mehr der Verteilungskampf ist, sondern der Kampf um das
Dazugehören oder Ausgeschlossensein, dann besteht die Anforderung an eine
Theorie der Gerechtigkeit in der Lösung der Frage, wie Ungerechtigkeit vermieden werde. Dazu zählt er z.B. den
„Skandal von Demütigung und Überflüssigwerden“, die
„Produktion von Ängsten“ und die „Chancenungleichheit bei
der Bildung“. Dies meint nicht, dass die Frage der Verteilungsgerechtigkeit,
die Frage nach der Umverteilung überflüssig sei; es bedeutet jedoch, dass die
Verengung der Frage der Gerechtigkeit auf Verteilungsfragen zu dem
konstatierten Realitätsverlust führe. Doch: erweisen sich die klassischen
Verteilungstheorien wirklich erst jetzt als ungenügend? Ist die Frage, ob der
entscheidende Kampf der Kampf um die (Um)Verteilung von Gütern oder jener der
Zugehörigkeit oder des Ausgeschlossenseins sei, nicht vielmehr eine Frage des
Standpunktes? Die feministische Kritik,
die in den 1980er Jahren einsetzte, deutete diesen Punkt als
Kontextgebundenheit jeder Moraltheorie. Die meisten der feministischen
Kritikerinnen2 haben in den Diskussionen der klassischen
Moraltheorien unabhängig von ihrer moralphilosophischen (Schul)heimat die
Berücksichtigung des Konkreten eingefordert. Darunter verstanden sie in
erster Linie die Einbeziehung der Geschlechterdifferenz, was sie in die
Forderung nach einem historischen und systematischen Sichtbarmachen von Frauen
umsetzten. Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese Forderung nach dem
Konkreten zu sehr im Allgemeinen verblieb. Deutlich wurde dies in der
bekannten Kritik der Schwarzen Frauen, die klar machten, dass sie in diesem
allgemeinen Begriff strukturell ausgeschlossen sind. Die Lösung des Problems
strukturellen Ausschlusses in der Realität mit der allgemeinen Forderung nach
Kontextgebundenheit in der Theorie reicht nicht aus. Die anderen Kontexte
sind eben nicht bekannt. Perspektiven anderer lassen sich nicht einfach
spekulativ einnehmen, übernehmen. Gerechtigkeitstheorien, die das nicht
berücksichtigen, werden zur Quelle neuen Unrechts. Dies hat Judith Butler
jüngst in ihrem neuen Buch Kritik der
ethischen Gewalt3 deutlich gemacht, in dem sie die
„Wirkungskraft der Moral für die Subjekte“, für die
Subjektkonstitution aufzeigt, die Wirkungsmacht mit ihren
Verallgemeinerungen, Ausschließungen und Verkennungen und angesichts derer
sie eine Kritik dieser ethischen Gewalt fordert. John Rawls ist letztes
Jahr gestorben. In ihrem Nachruf, den wir in dieser Nummer der Philosophin dokumentieren, weist Susan Neiman, Direktorin des
Einsteinforums in Potsdam und ehemalige Assistentin von Rawls, darauf hin,
dass die rawlssche Gerechtigkeitstheorie von Beginn an
„praxisfern“ gewesen, dass diese, wie er selber zu betonen nicht
müde geworden sei, nichts als einen „Idealtypus“ dargestellt
habe. Rawls war ein moralischer Mensch, er hätte sich, wie Neiman meint, in
die Politik einmischen müssen. Er habe es aus Bescheidenheit, aus Angst (aus zuviel Moralität?) nicht gemacht,
etwas nicht ganz zu verstehen, aus
Angst, Fehler zu machen. Doch bedeutet nicht, wie Neiman hinzufügt, just die
Überwindung dieser Angst, Verantwortung zu übernehmen? Was es bedeutet, über
Gerechtigkeit zu reden, ohne für die angeführten Beispiele Verantwortung zu
übernehmen, macht Neiman beiläufig deutlich, wenn sie darauf hinweist, dass
es sich im Oxford Common Room nach dem Zweiten Weltkrieg gut über Beispiele
wie jenes von Austin diskutieren ließ: „Wenn ich Deinen Esel aus
Versehen erschieße, bin ich dann verantwortlich?“ Weniger gut und in
der Folge gar nicht sei jedoch über das geredet worden, worauf es damals
angekommen wäre, also über das Beispiel: „Wenn ich Deine Deportation
stillschweigend hinnehme, bin ich dafür verantwortlich?“ Rawls sei, so Neiman, im
Oxford Common Room gut ausgekommen, ihn habe jedoch „etwas
anderes“ getrieben, doch darüber habe er nicht gesprochen. Ebensowenig
hat er es in seiner Gerechtigkeitsphilosophie zum Thema werden lassen. So ist
das Beispiel „Wenn ich Deine Deportation stillschweigend hinnehme, bin
ich dafür verantwortlich?“ in keiner seiner Schriften zu finden.
Unbeirrt macht Susan Neiman im Laufe ihres Textes deutlich, wie Ausschlüsse
produziert werden, indem beängstigende Realitäten ausgespart werden.
Feinfühlig weist sie nach, dass der mangelnde Realitätsbezug der prozeduralen
Gerechtigkeitstheorie nicht nur eine Frage der veränderten Realität, sondern
des Standpunktes ist, aus dem die Theorie auf der einen und die Realität auf
der anderen Seite wahrgenommen wird. In ihrer Antwort auf
unsere Frage, was sie mit dem Begriff der Gerechtigkeit anfange, erinnert die
Schriftstellerin Esther Dischereit
an die Forderung nach Wahrheit, die von den Müttern von Verschwundenen, von
den Anklägern in Wahrheitskommissionen und den Opfern von familiärer Gewalt
und Missbrauch gestellt werden. Dabei gehe es, wie Dischereit betont,
„häufig nicht in erster Linie um die Bestrafung der Täter, sondern um
die Veröffentlichung der Tat, um die Skandalisierung vor aller Augen“.
Der Grund für diese Forderung nach Wahrheit liegt darin, dass bei Verdeckung
der Wahrheit nicht einfach etwas ungesagt bleibe, sondern die
Täter-Opfer-Positionen verkehrt werden, die Mütter „Eltern von
Kriminellen“ bleiben und die Mörder „ehrenwerte
Staatsvertreter“. Ohne Anerkennung des Unrechts wird die missbrauchte
Tochter zum „bösen Kind“ oder „zweifelt an ihrem
Verstand“. Doch den Begriff der Gerechtigkeit mag Esther Dischereit für
diesen nötigen gesellschaftlichen Konsens, in einer gemeinsamen Anstrengung
die Wahrheit des begangenen Unrechts zutage zu fördern, nicht bemühen. Denn
ungeschehen machen lassen sich die Taten damit nicht. Gerechtigkeit wird
damit nicht hergestellt. Die Anerkennung des Geschehenen, die Skandalisierung
der mit der Tat verbundenen Demütigung ist, so Dischereit, eine Frage der
„Anständigkeit“. So lautet der Titel ihres Beitrages mit Bedacht
„Im Denken einer Bürgerin“. Fehlender Realitätsbezug,
so wird in den Beiträgen dieser Nummer der Philosophin mit dem Schwerpunktthema „Gerechtigkeit
konkret“ deutlich, ist nicht nur ein theoretischer Mangel von
Gerechtigkeitsphilosophien, sondern die Fortschreibung von Ausschlüssen und
damit die Quelle immer neuen Unrechts. In ihrem in den
Geschlechterstudien und den Kulturwissenschaften kanonisch gewordenen Essay
„On Being the Object of Property“ hat Patricia Williams, eine der führenden feministischen
Rechtswissenschaftlerinnen der USA, in sehr persönlicher Weise den Spalt
beschrieben, in dem sie sich als Vertreterin des bürgerlichen Rechts auf der
einen und als Ururenkelin einer von einem weißen Anwalt mit elf Jahren
geschwängerten und dann von ihrem Kind getrennten schwarzen Mädchen erlebt.
Dies war nach dem damals geltenden Sklavengesetz, auf dem das bürgerliche Gesetz
aufbaut, kein Unrecht und fiel, statt auf die Täter, auf die Opfer selbst
zurück. Das Sklavengesetz definierte Schwarze als Menschen, deren Bedürfnisse
nicht über das hinausgehen können, was der Sklavenhalter erfüllen kann, was
in seiner Macht liegt. Schwarze Menschen wurden mithin als Menschen ohne
eigenen Willen definiert. Mögliche Bedürfnisse, die über die von den Weißen
definierten hinausgingen, wurden in die Nichtexistenz gestoßen, Schwarze
wurden zum Objekt der Projektion, zu Menschen ohne eigenen Willen,
Menschlichkeit, wie Williams eindringlich beschreibt, wurde für Schwarze
reduziert auf den Anspruch der Versorgung mit Nahrung, Obdach und Kleidung.
Das Sklavengesetz konstituierte die „gesamte
Sklavenpersönlichkeit“ als irrational, als hässlich und mit mangelnder
Kontrollfähigkeit ausgestattet. Dieses doppelte – nur unter höchster
Anstrengung in Sprache übersetzbare Erbe stellt, wie Patricia Williams
eindringlich formuliert, die größte Herausforderung dar, mit der sie sich als
Anwältin konfrontiert sieht. Diese Herausforderung liegt darin, „die
volle Wahrheit einseitiger sozialer Konstruktion in ihrer überwältigenden
Wirklichkeit zuzulassen – eine Wirklichkeit, der ins Gesicht zu sehen
ich unter anderen Umständen vielleicht vernünftigerweise vermeiden würde. Auf
der Suche nach meinen Wurzeln muss ich es nicht nur als geschichtliche
Tatsache, sondern auch als eine weiterwirkende psychologische Kraft annehmen,
dass Irrationalität, Mangel an Kontrolle und Hässlichkeit nicht nur die
gesamte Sklavenpersönlichkeit bedeuten, nicht nur die gesamte Persönlichkeit
einer schwarzen Person, sondern meine eigene“. Eben diese Zulassung der
überwältigenden Wirkung des Sklavengesetzes lässt sie die verborgene
Kontinuität erkennen, in welcher sich die gegenwärtige Rechtsprechung etwa in
Bezug auf alleinerziehende Schwarze Mütter mit dem Sklavenrecht befindet. Wir
danken Patricia Williams für die Zustimmung, „On Being the Object of
Property“ in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Über das
Dasein als Besitzgegenstand“ in dieser Nummer zu veröffentlichen. Wie weit die Wirkung der
einseitigen Konstruktion der „Sklavenpersönlichkeit“ als Menschen
ohne eigenen Willen und mit einer auf den Anspruch der Versorgung mit
Nahrung, Obdach und Kleidung reduzierten reicht, hat – unbeabsichtigt
– Martha C. Nussbaum 1999 in ihrer zu zweideutiger Berühmtheit
gelangten Kritik an Judith Butler deutlich gemacht. „Women who are
hungry, illiterate, disfranchised, beaten, raped (…), prefer food,
schools, votes, and their integrity of their bodies“4,
lautete eines der Argumente, die sie gegen Butlers Vorschlag, die kulturellen
Techniken der Parodie als widerständige Politik zu verstehen, einwandte. Doch
woher, fragte die indische in den USA lebende und an der Columbia University
lehrende Philosophin Gayatry
Chakravorty Spivak in ihrer Replik prompt zurück, kann Nussbaum das
wissen? „This may“, so
fuhr sie fort, „be her idea of what they should want. In that
conviction she may want to train them to want this. That is
called a ‘civilizing mission’.“5 Wenn Nussbaum
jedoch die Frauen gemäß ihrem eigenen Selbstbild kennen lernen wolle, müsse
sie in deren Protokoll eintreten und sehr viel mehr Geduld und Verständnis
aufwenden. Was dies konkret meint, hat die bekannte Theoretikerin des
Postkolonialismus in ihrem grundlegenden Beitrag „Can the Subaltern
Speak. Speculations in Widow-Sacrifice“ ausgeführt. Die in dieser
Nummer veröffentlichte Fassung ist eine von der Autorin für die Philosophin gekürzte Fassung des 1985
zum ersten Mal erschienenen und in dem 1999 publizierten Buch A Critique of Postcolonial Reason. Toward
a History of the Vanishing Present in das Kapitel „History“
bearbeitet wiederaufgenommen Artikels. Spivak geht in ihrem
Essay aus von einer Kritik an Deuleuze’s und Foucaults Verabschiedung
der Repräsentation und der Ausrufung des Wissens als einer Form der Praxis.
Diese vorschnelle Gleichsetzung der Wissensproduktion der Intellektuellen mit
einer politischen Handlung verdecke, wie Spivak gegen die französischen
Philosophen festhält, die Differenz, die zwischen der politischen
Repräsentation eines „Sprechens für“ und der möglichen
Sprachlosigkeit von Subalternen bestehe. Als „Subalterne“
bezeichnet Spivak Menschen, die nicht für sich sprechen können, da ihre
Botschaften nicht gehört, nicht verstanden, nicht entschlüsselt, sondern (in)
den herrschenden Sprach- und Zeichenordnungen untergeordnet werden.
Eindringlich macht sie an einem Beispiel deutlich, was dies heißt. Es handelt
sich dabei um eine Frau, die, wie sie schreibt, „versuchte, äußerst
entschlossen zu sein, entschlossen, bis ins Extrem“. Diese Frau, eine
indische Widerstandskämpferin „sprach“ und wurde weder von den
Frauen der eigenen Familie, noch von den Frauen aus dem Westen verstanden.
Geduldig entschlüsselt Spivak, in welcher Weise sich der Selbstmord der
jungen Frau im Jahr 1926 als eine mögliche Neuschreibung des sozialen Textes
des sati-Suizids, des „Witwenselbstmords“, lesen lässt und
versucht dabei, den Anspruch der jungen Frau ernst zu nehmen, ihrem Tod einen
eigenen Sinn und damit zugleich ihrem Leben eine selbstbestimmte Würde zu
verleihen. Es kommt jenem Versuch des zu Tage Förderns der Wahrheit gleich,
den Esther Dischereit einen Akt der Anständigkeit nannte. Für eine
„anständige“ und nicht für eine „gerechte“
Gesellschaft plädiert auch Sabine Hark
in ihrem Beitrag, in dem sie „Prinzipien einer Politik der
Geschlechtergerechtigkeit“ formuliert. Sie knüpft darin an Avishai
Margalits Formulierung an, nach der eine Gesellschaft dann „anständig
sei, wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen“. Eine
Gesellschaft wäre, so Hark, dann anständig zu nennen, wenn sie die
Selbstachtung ihrer Mitglieder nicht nur nicht verletzt, sondern wenn
„ihre Institutionen die Richtschnur für ihr Handeln in diesen Werten
fänden“. „Zwischen Tabus und
Klischees“ siedelt Ute Frietsch
ihre Überlegungen zur Frage einer möglichen Gerechtigkeit im Gen-Diskurs an.
Sie geht von der Kritik an Habermas’ Diskussion einer „Zukunft
der menschlichen Natur“ aus. In Habermas’ Konstruktion eines
„gattungsethischen Wir“ sieht sie, statt der notwendigen
Benennung der sozialen und kulturellen Widersprüche das Verhaftetsein in
einem andro-anthropologischen Muster. Dies führt sie zur Beschäftigung mit
einem Science-Fiction-Zyklus der Schriftstellerin Octavia E. Butler, da
„gerade die explizit fiktionale Literatur in Kontakt“ mit den
Widersprüchen bleibe, die von den „angeblichen anthropologischen
Verbindlichkeiten der einen Menschengattung sowohl erzeugt wie subsumiert
worden sind.“ Statt eines Gesprächs
schließt in dieser Nummer ein kontroverses E-mail-Gespräch die Reihe der
Beiträge zum Schwerpunktthema ab. Das E-mail-Gespräch haben die Berliner
Juristin Susanne Baer und Astrid Deuber-Mankowsky im Anschluss
an ein gemeinsames, transdisziplinäres Seminar über die Frage geführt: „Wieviel Glaube ist im Staat?“ Die Herausgeberinnen 1 Thomas Assheuer,
„Schattenboxen im leeren Ring. Mehr Freiheit? Mehr Gleichheit? Philosophen
streiten über Gerechtigkeit“, in: Die
Zeit, Nr. 23, 2003. 2 Iris
Young, Sheila Benhabib, Nancy Fraser, Herlinde Pauer-Studer, Susan Moller
Okin, Onora O’Neill u.a. 3 Judith
Butler, Kritik der ethischen Gewalt,
Frankfurt a. M. 2003. 4 Martha Nussbaum, „The
Professor of parody. The hip Defeatism of Judith Butler“, in: The New Republic, February 22, 1999,
S. 43. 5 Spivak, in: The New Republic, April 19, 1999. |
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