DIE PHILOSOPHINForum für feministische Theorie und Philosophie
Philosophin 12 Umgang mit der Tradition
EINLEITUNG
Feministisch orientierte Philosophie hat seit ihren Anfängen ein gespaltenes und sehr wechselhaftes Verhältnis zur Tradition. Mit Nachdruck hat sie den misogynen Charakter dessen, was die meisten europäischen Philosophen über Frauen denken und geschrieben haben, herausgearbeitet und als Bestandteile eines Herrschaftsdiskurses entlarvt. Verbunden mit diesem Blick auf die abendländische, androzentrische Tradition war eine Abkehr von ihr und ihren Meisterdenkern und damit zunächst auch von den heutigen institutionellen Orten der traditionalistischen Textpflege. Diese Abgrenzung und Demontage der alten Texte, beispielhaft hierfür kann Luce Irigarays 1974 erschienene Platon-, Aristoteles- und Hegelinterpretation in Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts gelten, war verbunden mit dem Wunsch, die gesellschaftliche Wirklichkeit, die hierarchisch organisierte Geschlechterdifferenz von der theoretischen Reflexion nicht auszugrenzen, sondern sie mithilfe der Theorie zu verstehen und letztlich politisch zu verändern. Feministisch engagierte Philosophinnen bedienten sich dabei verstärkt der Untersuchungen und Methoden anderer Disziplinen, u.a. der Soziologie, der Psychoanalyse und ihres Lektüreverfahrens, der Ethnologie. Doch in dieser interdisziplinären theoretischen Abgrenzung war die philosophische Tradition dennoch sehr gegenwärtig. Irigarays Interpretationen luden geradezu zu einer neuen Lektüre von Plato und Hegel ein. Im Verlaufe der 80er und 90er Jahre entwickelte sich dieser interdisziplinäre Ansatz einer kritischen Theorie der Geschlechterdifferenz in vielen heterogenen, teilweise sich heftig widersprechenden Entwürfen weiter. Diese Entwürfe schieden sich - und scheiden sich bis heute - an der Interpretation von "Weiblichkeit", von "Frau" , von Geschlechterdifferenz. Damit wurde zugleich auch das Subjekt "wir" in feministischen Diskursen dekonstruiert und die realen unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen der Frauen mitberücksichtigt. Rasse, Klasse, Geschichte machen neben dem Geschlecht den gesellschaftlichen Ort von Frauen aus. Und sie bestimmen damit auch den Standpunkt, von dem aus sich Philosophinnen der Tradition zuwenden, sie bestimmen ihren genauen Bezug zur Tradition. So haben Forscherinnen, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, erkannt, daß nicht einfach von Frauen im NS gesprochen werden kann, da diese Rede die Gegensätze von Opfern und Täterinnen aufhebt. Wie in den Aufsätzen von Sigrid Weigel und Birgit Erdle gezeigt wird, ist es gerade für eine deutschsprachige feministische Theoretikerin notwendig, sich der Geschichte des NS gegenüber zu situieren, um nicht mit einem allgemeinen Deutungsmuster, die Geschichte der Opfer verfälschend und verschweigend, die feministische Theorie zu einer Komplizin der Tradition zu machen. Mit dieser Entwicklung feministisch orientierter Philosophie in den letzten 20 Jahren wuchs durch die zunehmende entideologisierte und sehr viel differenziertere Hinwendung zur Tradition auch eine neue Lust an alten Texten. Die Aufnahme und Kombination unterschiedlichster Texte und Argumentationen aus der Geschichte der Philosophie bewirkten durch die Veränderung der Tradition die Schaffung "neuer" Traditionen. Dieser Aufnahme kann es natürlich nicht um eine "wahre", kanonisierte Lesart der Texte gehen, sondern um eine kritische Lektüre von "alten" Texten mithilfe neuer Fragen, Fragen, die ihr Ziel, unsere Wirklichkeit verstehen zu wollen, nicht einfach unterwegs vergessen. Verbunden mit dieser Traditionsschaffung, die sicherlich nicht zufällig einher geht mit dem zunehmenden Rückbezug feministischer Theorie auf ihre Anfänge, auf den Beginn einer "eigenen" Tradition also, der nunmehr auch fast 50 Jahre zurückliegt, ist die Akademisierung der feministischen Theorie und ihre Institutionalisierung. Der - wenngleich in der Philosophie immer noch marginale - Einzug feministischer Theorie in die Institutionen von Lehre und Forschung hat auch die Lehre zu einem Mittel der Tradierung gemacht. Dies freilich birgt auch die Gefahr, sich der oft traditionalistisch gebärdenden, wirklichkeitsfernen Schulphilosophie anzugleichen. Ein neuer Umgang mit der Tradition also? - Die Frage zielt auf das alltägliche Geschäft von Philosophinnen. Sie zielt nicht auf einen bestimmten Inhalt, wohl aber auf die Beantwortung der Frage, was denn vom Standpunkt einer feministisch orientierten Theoretikerin von der philosophischen Tradition erwartet und wie mit ihr umgegangen werden kann. Sie kann Philosophinnen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte führen, und das heißt zu einer Suche nach Spuren von in den Texten verborgenen Orten und Funktionen der Geschlechterdifferenz, zur Entzifferung. Das heißt aber auch - und gerade für die deutschsprachigen Philosophinnen die nicht zu den Opfern der Geschichte gehören - die Erinnerung an das, was in diesen Texten zum Schweigen gebracht wurde, nicht zur (akademischen) Ruhe kommen zu lassen. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Tradition wird in den folgenden Beiträgen in sehr unterschiedlicher Weise geführt. Aber in allen Beiträgen wird klar, daß kein Projekt feministisch orientierter Philosophie, wie immer es auch aussieht, die Auseinandersetzung mit der Tradition übergehen kann. Brigitte Hilmer sieht eine mögliche, wenngleich schwierige Überwindung der Herrschaftsstrukturen in der Aneignung und Kritik der Tradition durch feministisches Denken. Ihre Entwicklung von Kriterien für ein solches feministisches Denken weist bestimmte inhaltliche Anschlüsse und methodologische Festlegungen ab, um als Eigentümlichkeit der feministischen Interpretation von Texten, die immer auch schon Applikation von Tradition und nicht etwa etwas fundamental Neues, Anderes bedeutet, die Situation von Frauen zu benennen. Und zwar die Situation von Frauen dann, wenn sie öffentlich hörbar nicht hingenommen wird. Hilmer entwirft eine feministische Hermeneutik, die selbstkritisch und machtkritisch sich Überlieferungen aneignet, um sie verändert weiter zu tradieren, eine "eigene" Tradition zu schaffen. Ursula Marianne Ernst führt eine solche Lektüre von Platons Symposion vor, die vor allem auch von der Lust an alten Texten zeugt. Sie findet mit Gelassenheit und ohne alte ideologische Aprioris einen neuen Zugang zu Platon, indem sie den Spuren einer Denkbewegung im Symposion nachgeht, die das so vielfach kritisierte Denkmuster aus dichotomen Begriffen unterläuft. Die Frankfurter Psychoanalytikerin und Philosophin Hanna Gekle zeigt in ihrer Interpretation von Freuds Vorlesung über die Weiblichkeit, wie es Freud nicht gelingt, sich wider besseres Wissen von den theoretischen Vorgaben der Tradition freizumachen. Die Schwäche der Konstruktion des Textes zeigt sich im Lichte des Freudschen Werkes selber, das, so Gekle, insgesamt als eine Kritik an seiner Theorie der Weiblichkeit gelesen werden kann. Für eine andere Theorie der Geschlechter hat Freud selbst, ansatzweise auch in der Vorlesung, "die theoretischen Voraussetzungen geschaffen. Bliebe nur noch, die nötigen Schlüsse daraus zu ziehen." Cornelia Klinger thematisiert den veränderten Umgang feministischer Philosophie mit der philosophischen Tradition in einem Überblick über die Etappen der feministischen Theoriebildung in den letzten 20 Jahren. Die Perspektive feministischer Kritik als einer Kritik an der Komplizenschaft der Philosophie mit Herrschaftsverhältnissen und an ungerechtfertigten Universalitätsanspüchen ist, den Zusammenhang von Wissen und Macht auf seine geschlechtsbezogene Komponente hin zu untersuchen. Für die gegenwärtige Etappe der feministischen Philosophie in einer nachmetaphysischen Welt formuliert Klinger als Ziel, die Entzifferung der kulturellen/symbolischen Dimension des "Konstrukts" Geschlechterdifferenz. Das bedeutet die explizit philosophische Aufgabe, und damit nimmt sie zu der zur Zeit so heftig geführten Konstruktivismusdebatte Stellung, den Konstruktionsgedanken neu zu fassen. Und in bezug auf das Geschlecht, die Schwelle von Natur/Kultur zu reflektieren, "die Idee der sozialen Konstruktion (...) um die der kulturellen oder symbolischen Konstruktion zu ergänzen." Eine stärker historische Gewichtung im Umgang mit der Tradition, dem expliziten Forschungsthema von Geneviève Fraisse, die als Philosophin und Historikerin seit Jahren intensiv am CNRS in Paris an der Ausarbeitung ihrer These zur Geschichtlichkeit der Geschlechterdifferenz arbeitet, und die den deutschsprachigen Leserinnen durch die Herausgabe des 4. Bandes der Geschichte der Frauen mit dem Schwerpunkt 19. Jahrhundert bekannt ist, zeigt unser Gespräch auf. Fraisses zentrales Forschungsziel liegt im Aufweis der Geschichtlichkeit der Geschlechterdifferenz. Sie möchte die Geschlechterdifferenz zu einem philosophischen Objekt machen. Das heißt, sie sucht in ihrer Auseinandersetzung mit alten Texten nach brauchbaren Konzepten des Denkens, die das Ungedachte der Diskurse zum Vorschein bringen, ihm einen neuen Sinn innerhalb der Texte geben. Sie will die Texte von innen her zersetzen, sie in ihrer inneren Logik soweit als möglich treiben. Auf die Gefahr, die in einem Bezug auf Tradition liegt, der die Zäsur Auschwitz verdeckt, die Traditionen weiterschreiben bzw. aufnehmen will, ohne sich der von Sarah Kofman, im Rückgriff auf Adorno, formulierten Frage zu stellen, wie man nach Auschwitz überhaupt noch schreiben kann, weisen Birgit Erdle und Sigrid Weigel eindringlich hin. Birgit Erdles Lektüre der Paroles suffoquées (Erstickte Worte) ist zentriert um den Aufweis, wie Sarah Kofmans Text mit "tradierten Mustern des Erinnerns umgeht", wie er sich auf die Tradition der Klagelieder bezieht, in denen eine "Ordnung des Erinnerns" vorgegeben wird, die dem "Zeugnis" eine besondere, unvergleichbare Stellung zuweist. Kofmans Frage, der sie in Paroles suffoquées nachgeht, und die sie in ihrem Gespräch mit der Philosophin vor fünf Jahren als die zentrale Frage ihres Schreibens bezeichnet hat, ist die nach der Möglichkeit eines Diskurses der Philosophie, der Historiographie, der Literatur dem "Zeugnis" Zeit zu geben, um es zu hören, ohne sich seiner zu bemächtigen. Erdle situiert den Text Kofmans in die Zeit seines Erscheinens in Deutschland, als der Historikerstreit sozusagen entschieden war. Sie zeigt auf, wie der Unterschied zwischen dem Zeugnis der Überlebenden der Shoah und der Einordnung der Erinnerungen in den akademischen wissenschaftlichen Diskurs über den Holocaust eingeebnet wurde. In ihrer Frage, wie die Shoah, die unvorstellbare Vernichtung erinnert werden kann, wie nach Auschwitz überhaupt geschrieben werden kann, bezieht sich Kofman nur in einer gebrochenen, widerspruchsvollen Bewegung auf tradierte Muster, sie schreibt in diese eine Zäsur ein, die sie auf die alten metaphysischen Begriffe ausdehnt, um ihnen etwas anhaben zu können und dabei gleichzeitig ihren Sinn zu verschieben. Sie läßt die Bedeutungen der Tradition durch Störungen und Brüche nicht zur Ruhe kommen. Sigrid Weigel weist auf, daß feministische Projekte, die auch in die Untersuchungen zur Geschichte und zum Gedächtnis von Nazismus, Krieg und Shoah die Perspektive der Geschlechterdifferenz eintragen wollen, oft entgegen ihrer Intention, durch die Benutzung bestimmter kollektiver Deutungsmuster "die Unvereinbarkeit der Erinnerungsperspektive von Opfern und Tätern, ihre Gegenstellung im Gedächtnis der Shoah" überdecken. Die Frage nach dem Ort der Frauen im Holocaust im Land der Täter muß vor diesem Hintergrund gesehen werden. Ganz im Sinne von Sarah Kofman klärt Weigel, daß die Zeugenschaft der Vernichtung und die Auslöschung der Individualität, auch die des Todes, in literarischen Erinnerungen an Auschwitz nicht in feministische Historiographie integriert werden und ihr damit ein Sinn verliehen werden kann, der z. B. in einem identifikatorischen Lesen mit den Opfern bestünde und die Vernichtung als patriarchalisch bestimmt.
Die Herausgeberinnen
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