Gesicht, du Unerkennbares

 

Heute will ich etwas Selbsterlebtes beschreiben, das kein normaler Mensch verstehen kann. Trotzdem unternehme ich es in der Hoffnung, daß im Leser am Ende eine Ahnung von diesen ihm zunächst unvorstellbaren Ereignissen aufzudämmern beginnt.
Jeder, der in einen Spiegel blickt, erkennt sich selbst und kann überprüfen, ob er gut gekämmt ist, ob die Rasur gelungen ist oder ob das Erscheinungsbild des eigenen Gesichts etwas zu wünschen übrig läßt. Geht er von der Wohnung auf die Straße, so trifft er bekannte und unbekannte Menschen. Die Zuordnung zu diesen beiden Gruppen wird ihm möglich, weil er erkennt, ob die Gesichter der Menschen, denen er begegnet, ihm bekannt sind oder nicht. Außer den Menschen erkennt er auch die Häuser und Straßen seiner Umgebung. Er weiß, welchen Weg er einschlagen muß, um zum Bäcker oder Fleischer zu kommen. Er kann auch sein Auto besteigen, um mehrere Kilometer, bis zu seinem Arbeitsplatz zu fahren.
Dieses Erkennen von Menschen und Umgebung gelingt, weil er mit gesunden Augen viele Einzelheiten gleichzeitig aufnehmen kann und diese Vielfalt aufgenommener Einzelheiten, oder besser ausgedrückt, die Vielfalt wahrgenommener einzelner Eindrücke, zu einem "Gesamtbild" koordinieren kann. So erkennt er menschliche Gesichter, Straßenzüge oder die Schönheit einer Landschaft. Das ist jedem normal gesunden Menschen so vertraut, daß es ihm selbstverständlich erscheint. Er fürchtet allenfalls infolge krankhafter Entwicklungen sein Augenlicht teilweise oder vollständig zu verlieren. Die Vorstellung, daß er zwar Gesichter, Häuser und Landschaften sehen aber nicht mehr als ihm etwas Bekanntes erkennen kann, ist ihm so fremd, daß sie ihm als absurdes Gefasel eines Geistesgestörten erscheint.
Leider ist dem nicht so!
Eines Morgens erwachst du und siehst eine fremde Frau in das Schlafzimmer kommen und dich nach deinen Frühstückswünschen fragen. An der Stimme dieser dir optisch unbekannten Person erkennst du, daß es sich um deine Frau handelt. Innerlich stark befremdet äußerst du deine Wünsche für ein Frühstücksei, gehst darauf ins Bad, um dich zu rasieren und zu duschen. Den Rasierapparat in der Hand schaut dich aus dem Spiegel ein völlig fremder Mensch an. Er hat zwar wie du einen Bart, aber sein Gesicht sieht fremd und alt aus. Du sprichst ihn an, und du hörst deine eigene Stimme aus seinen Lippen entweichen.
Der geplante Gang zum Kaufmannsladen wird für dich nicht durchführbar, da du nicht erkennen kannst, bevor du die Straße überquerst, ob Autos noch weit entfernt sind oder dir bereits recht nahe zurollen, noch ob sie sich in schneller Fahrt nähern oder nur langsam daherrollen. Also kannst du die Straße nicht allein überqueren und brauchst dazu eine Hilfe. Gehst du allein in autofreier Zeit, so erkennst du nicht die Querstraße , auf der du zum Kaufmann abbiegen mußt und erreichst diesen daher nicht, falls du nicht auch hier eine Hilfe hast. Bei deinem Alleingang kommt dir die eine oder andere weibliche Person entgegen, die sich später im Bekanntenkreis verwundert über deine Unhöflichkeit äußert, beim Vorbeigehen nicht zu grüßen, wie du es selbstverständlich bisher stets getan hattest. Sie ahnt ja nicht, daß du zwar eine dir entgegenkommende Person wahrgenommen hattest, diese also nicht angelaufen bist, aber das Gesicht dieser Person und damit ihre Identität nicht erkannt hattest.
So verändert sich für dich die Weltwahrnehmung, da du auch Farben nicht mehr richtig wahrnehmen kannst. Ob etwas rot, grün oder blau ist, bleibt dir verborgen. Allenfalls hast du eine schwache Ahnung von der möglichen Farbe und kannst ohne Hilfe nicht deine Kleidung auswählen und anziehen. Da du weder Fisch noch Fleisch sowie spezifische Lebensmittel mit Ausnahme von Bierbüchsen erkennen kannst, mußt du auf das Essen verzichten, es sei, du hättest eine Hilfe, die dir alles Eßbare zubereitet und serviert.
Ob dieser Orientierungslosigkeit ziehst du es vor, möglichst vollständig im eigenen Haus zu verweilen, wenn dich nicht eine Hilfe zu unbedingt notwendigen auswärtigen Besuchen, wie Arzt- oder Amtsbesuche, im Auto fährt, das du nicht mehr selbständig auf Grund der eingetretenen Ausfälle fahren kannst.
Um gelegentlich die Zeit zu vertreiben, du kannst ja nicht unermüdlich in Erlebnissen der Vergangenheit schwelgen - was in deinem Zustand sehr wohltuend ist -, schaltest du zuweilen den Fernsehapparat ein, an die notwendig zu bedienenden Knöpfe kannst du dich erinnern und du findest sie auch. Allerdings tauchen bei einer Nachrichtensendung dir völlig fremde Gesichter auf. Erst wenn sie sprechen, erfährst du, daß es sich um den Bundeskanzler, den Finanzminister oder andere dir von früher vertraute Personen handelt. Sie sehen fremd und unerkennbar aus. Ein Fernsehspiel kannst du ohne Hilfe, die dir immer wieder erklärt, welcher Akteur nun gerade wieder die Szene betreten hat, nicht verfolgen. In dieser Verwirrung von Fernsehspielen, die sich aus der Nichterkennbarkeit der Schauspieler ergibt, sobald sie die Szene gewechselt haben, gibt es für dich glückliche Ausnahmen, nämlich dann, wenn ein Schauspieler nicht nur aus seinem Gesicht sondern auch aus seiner Kleidung unverwechselbar zu erkennen ist, was z.B. für Columbo gilt, dessen Aufklärungsbemühungen in einem Mordfall zu folgen, für dich zu einem ungeahnten Genuß werden. Leider wird diese jahrzehntelange Programmserie zuweilen für längere Zeiten unterbrochen.
Mit der Zeit werden dir die prominenten Gesichter, die in den Nachrichtensendungen in Erscheinung treten, sogar vertraut und du erkennst sie wieder, bevor sie sprechen. Allerdings sind ihre Gesichter anders, als du sie von früher in Erinnerung hattest. So ergibt sich die interessante Frage, wie wirken Bilder dieser Personen aus alter Zeit, als du noch ganz normal gesehen hast, heute auf dich. Kannst du erkennen, um wen es sich handelt, wenn man dir solche Photographien zeigt?
Du machst zunächst einen einfachen Test und blätterst das Fotoalbum deiner Familie durch mit Photos aus den letzten Jahren. Du stellst fest, keine Person wiedererkennen zu können, obwohl du die Bilder höchst persönlich aufgenommen hast. Wenn dir jemand sagt, wo das jeweilige Bild von dir aufgenommen worden ist und wer die abgebildeten Personen sind, zieht langsam eine Erinnerung in dein Gedächtnis ein. Allgemein bekannte Personen, wie z.B. Politiker, Künstler oder Sportler, die dir in Zeitungsbildern oder in alten Fernsehfilmen gezeigt werden, erkennst du nicht sondern kannst zuweilen an Hand auffallender Einzelheiten, wie Haarstil oder Garderobe (wie z.B. bei dem bereits erwähnten Columbo) die Personen erraten.
Es gibt allerdings eine sehr auffallende Ausnahme. Du hast früher sehr häufig Diapositive von Freunden und Bekannten als Portrait aufgenommen, da du zahlreiche Ölbilder mit Hilfe dieser Vorlagen gemalt hast. Von den etwa 300 Diapositiven kannst du die Mehrzahl deutlich erkennen, also nicht an Einzelteilen erraten, ohne daß dir jemand behilflich durch entsprechende Hinweise sein muß. Hier bist du in der Lage, die Wirklichkeit der Personen zu sehen.
Warum in diesen Fällen, aber nicht in allen anderen Fällen? Folgendes Erlebnis offenbart, wie schwierig diese Frage zu beantworten sein wird. Bei Untersuchungen deines Erkennungsvermögens durch spezielle Fachleute zeigt dir einer der Untersucher auf einem Bildschirm drei Portraitaufnahmen und fordert dich auf, ihm mitzuteilen, welches der drei Gesichter dir freundlich und welches dir abweisend erscheint. Du sagst ihm, daß du in der Mitte eine Frau siehst, die am freundlichsten dreinschaut. Die beiden anderen Männergesichter erscheinen dir im Ausdruck neutral, also weder freundlich noch abweisend. Es trifft dich wie ein Schlag, als der Untersucher dir erzählt, daß alle drei Aufnahmen sein Gesicht darstellen. Obwohl er neben dir saß, hast du ihn auf den Bildern nicht erkannt.
Warum erkennst du nicht den Untersucher auf den Diapositiven aber die vor Jahren selbst aufgenommenen Portraits? Der Untersucher begegnet dir übrigens am nächsten Tag persönlich, jedoch du erkennst ihn nicht, auch wenn du mit ihm redest, vielmehr erzählst du ihm von dem seltsamen Erlebnis, daß du am Vortag mit einem Untersucher, den du auf seinen Bildern nicht erkennen konntest, gehabt habest. In gleicher Weise bleiben dir Nachbarn, denen du vor kurzer Zeit begegnet bist, unerkennbar. Selbst nahe Verwandte, mit denen du längere Zeit keinen optischen Kontakt gehabt hast, bleiben dir, wenn sie unerwartet auftreten, unerkennbar.
Es heißt nun intensiv nachzudenken, um mögliche Ursachen für diese Erkennungsunterschiede zu identifizieren und eventuell später durch geeignete Untersuchungen nachweisen zu können.
Das Nichtwiedererkennen von Personen, die du vor kurzer oder längerer Zeit gesehen hast, könnte auf einer Gedächtnislücke beruhen. Das hieße, du hast kein Gedächtnis mehr für Gesichter und das gilt auch für Häuser, Straßen und Landschaften. Das gilt zumindest für bestimmte Zahlenkombinationen, wie du nach dem Erhalt einer neuen Telefonnummer immer wieder feststellen mußt. Du kannst diese zehn Ziffern (einschließlich der Vorwahlnummer) nicht behalten, obwohl du deine alte Telefonnummer problemlos aufsagen kannst. Dasselbe gilt für die Nummer eines neuen und alten Bankkontos. Wenn das Gedächtnis also Lücken aufweist, sei es Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnis, warum kannst du die alten selbst aufgenommenen Portraitbilder problemlos identifizieren und hast die abgebildeten Personen nicht vergessen? Beim Sehen dieser Bilder kannst du offenbar die Fülle der Einzeleindrücke so koordinieren, wie es früher geschah, als du noch gesund warst. Warum gelingt das nicht mit Zeitungsbildern, Fernsehbildern oder dir gegenüberstehenden lebenden Personen? Dieses Rätsel kann ich momentan noch nicht lösen. Ich brauche weitere Zeit zum Überlegen!

Wie wäre es, wenn du in Zukunft die dir begegnenden Menschen so konzentriert anschauen würdest, als ob du eine Portraitaufnahme von ihnen machen wolltest, oder mache tatsächlich Portraitaufnahmen von geeigneten Personen. Dann ergibt sich die Frage: Wirst du diese Personen, wenn du sie zufällig triffst, unter verändertem Blickwinkel wiedererkennen? Daran ist zu zweifeln, da du in der Tat einigen der früher Portraitierten sowohl im Foto als auch im Ölbild erneut persönlich wiederbegegnet bist, wie z.B. deinem Stiefsohn, ohne ihn tatsächlich zu erkennen. Der Grund für das Wiedererkennen selbst fotografierter Portraits liegt wohl darin, daß eine Fotografie sich nicht verändert und die bei der Tätigkeit des Aufnehmens im Gehirn gespeicherten Engramme trotz deiner Erkrankung erhalten geblieben sind; die bei erneuter Begegnung wahrgenommen Eindrücke sich jedoch nicht koordinieren lassen, und damit der Eindruck, z.B. ein Gesicht oder ein Haus, unidentifizierbar verbleiben. Der eigentliche Grund dieser Erkrankung ist wohl auf einen eingetretenen Koordinierungsmangel zurückzuführen.

Wie du heute weißt, wurde diese Erkrankung durch eine Blockierung der Adern im Gehirn, die die Sehbereiche in der rechten und linken Großhirnhälfte versorgen, verursacht. Die Fachleute nennen diese Erkennungsunfähigkeit Prosopagnosie und wissen wenig darüber, da Prosopagnosie nur außerordentlich selten auftritt, und von einem, der sie nicht persönlich erlebt hat, nicht beschrieben werden kann, da diese Erkrankung für jeden Gesunden einfach unvorstellbar ist. Du bist also solch ein betrüblicher Sonderfall mit Sonderkenntnissen und es bleibt dir nichts anderes übrig, als ihn zu genießen!!

Ergänzung am 13. 8. 98:

Seit etwa vier Wochen stehe ich per E-mail im Kontakt mit 27 Gesichtsblinden. Etwa 20 davon sind USA-Bürger, zwei sind Engländer. Außerdem gibt es je einen Kanadier, Franzosen, Finnen und mich als Deutschen. Ich bin in diesem Kreis der Älteste und derjenige, der erst seit relativ kurzer Zeit an Prosopagnosie leidet. Durch einen Schlaganfall hat außer mir keiner das Leiden bekommen. Viele leiden seit Jahrzehnten daran. Es wurde bei Ihnen offensichtlich verursacht durch ein Gehirntrauma infolge eines Unfalls oder einer Hirnoperation. Die Mehrzahl ist gesichtsblind seit frühester Kindheit. Manche vermuten genetische Gründe, da Eltern und Kinder erkrankt sind. So ähnlich wie Kurzsichtigkeit wird Gesichtsblindheit, wenn sie seit frühester Kindheit vorliegt, nicht als Krankheit empfunden, obwohl in der Schule, im Beruf oder beim Militärdienst große soziale Probleme auftreten. Gesichtsblinde erkennen ihre Klassenkameraden nicht. Natürlich auch nicht ihre Arbeitskollegen, denen sie z.B. auf der Straße begegnen. Sie gelten daher allgemein als asoziale, abgeschottet dahinlebende Menschen. Ein Amerikaner wurde in die Navy eingezogen. Dort konnte er alle gleich uniformierten Kameraden mit gleichartigem kurzen Haarschnitt nicht erkennen und wurde schließlich von einem Militärarzt als dienstuntauglich eingestuft und vom Militärdienst entlassen. Die Ärzte haben seine Erkrankung nicht diagnostiziert. Das gilt auch für praktisch alle übrigen Mitglieder der "mailing list of face blind folks". Ein Amerikaner, seit Kindheit ebenfalls belastet, hat Psychiatrie studiert, ohne Wesentliches über sein Leiden zu erfahren. Einige haben erste Informationen über das Internet erhalten. Dort hat ein Erkrankter namens Bill Choisser einen 150 Seiten langen Artikel unter dem Titel "Face blind!" veröffentlicht, in dem er ausführlich die sozialen Probleme eines Gesichtsblinden darstellt und diskutiert. Über diesen Artikel habe auch ich Zugang zu der mailing list gefunden und stehe nun in einem Informationsaustausch per E-mail mit Prosopagnosie-Erkrankten. Ich bin nicht mehr ganz so allein.

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Neuropsychologie
Prof.Dr.Irene Daum

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