Projektbeschreibung
Das DFG-Forschungsprogramm „Schuld und Gnade“ untersuchte die Theorie und Praxis von Gebärdenprotokollen in Strafakten zwischen 1650 und 1850. Es ging um jene paralinguistischen Zeichen, die ein Inquisit bei der Vernehmung zeigt. Seit dem 16. Jahrhundert gab es Direktiven an die Richter und Schreiber, diese Zeichen zu protokollieren. Hat dies zu Registern von Schuldzeichen geführt, oder zumindest von Zeichen, die auf eine mögliche Schuld hinweisen könnten, jenseits des Diskurses? Gab es Regeln oder Usancen, diese zu verarbeiten? Dann lässt sich das richterliche Verhör in Beziehung setzen zu einem weiteren Diskurs, der nicht-sprachliche Zeichen von Schuld behauptet und aufspürt: der pietistischen Lebensbeschreibung. Dies betrifft also die Vorgeschichte dessen, was man als Psychologie kennt. In welchem Verhältnis steht das Prozessieren von Schuld- und Gnadenzeichen innerhalb der pietistischen Auto-biographien zu den institutionellen Datenerhebungen der Richter? Gab es dort Vorleistungen, welche die raffinierte Psychologisierung des eigenen Lebens erst möglich machte, die durch die Pietisten eingeführt worden ist? Das Projekt versteht sich auch als Beitrag zur Vor- und Frühgeschichte der forensischen Psychologie. Die Mitarbeiter des Projektes haben eine breite Datenerhebung anhand von Strafprozessakten und religiösen Lebensläufen durchgeführt. Ein Band, der die Forschungsergebnisse präsentiert, ist in Vorbereitung.