panel 4b | 11.11.2011 | 15:00-16:00 | room 2 | german
MEDIALE (UN)ORDNUNGEN DES WISSENS
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ALINA BOTHE (Berlin)
(des)orientiertes Erinnern – virtuelle Zeugnisse der Shoah
Ein erstes Bild auf dem Computerbildschirm. Ein alter Mann in seinem Wohnzimmer, irgendwann in den 1990er Jahren. Die Stimme zittert, ist brüchig. Ein Satz ist zu hören. "My sisters wants to return to Auschwitz one day, to say Kaddish for my parents, because that is where they died." Dann ein Mausklick und das nächste Bild erscheint. Wiederum ein älterer Mann, die Stimme fest, der Blick direkt auf die Zuhörenden gerichtet. Ein weiterer Satz: "Then we saw these wooden bunk beds." Ein weiterer Mausklick, weitere Bilder und Sätze...
Die Auschnitte sind jeweils Segmente aus den virtuellen Zeugnissen Überlebender der Shoah, die die Survivors of the Shoah Visual History Foundation, gegründet von Steven Spielberg, im Visual History Archive gesammelt hat. Dieses Archiv ist einzigartig in seiner Quantität wie Qualität. Es umfasst mehr als 48.000 Zeugnisse Überlebender der Shoah, die in 56 Ländern und mehr als 30 Sprachen abgelegt worden sind. Die Zeugnisse liegen in digitalisierter Form vor. Als erste Universität in Europa hat die Freie Universität Berlin bereits 2006 Zugang zu diesem Archiv erhalten.
Sämtliche Zeugnisse des Archivs werden nach der Digitalisierung komplex erschlossen, so dass es möglich ist, basierend auf einem mehr als 60.000 Einträge umfassenden Thesaurus, sekundengenau einzelne Segmente in den teils vielstündigen Zeugnissen zu suchen, auszuwählen und abzuspielen. Für den Suchbegriff "Aufstand im Warschauer Ghetto" werden beispielsweise zehn Zeugnisse gefunden, durch die entsprechenden Segmente in den Zeugnissen lässt sich dann per Mausklick "switchen". Zugleich ist Bestandteil der Erschließung, dass die einzelnen Zeugnisse aufbereitet werden und während der Rezeption dieser Zeugnisse zusätzliche Informationen zur Verfügungen stehen, die ein Erfassen der Zeugnisse deutlich erleichtern.
Zwei gegenläufige Prozesse sind dementsprechend zu beobachten: Zum einen bedeutet die Möglichkeit nacheinander durch eine Vielzahl an virtuellen Zeugnissen zu schalten und nur kurze Ausschnitte aus diesen wahrzunehmen, dass die Narration des Zeugnisses an sich durchbrochen wird und Erinnerungen nur noch fragmentarisch wahrgenommen werden: desorientierte Erinnerung. Zum anderen führt die Rahmung der Zeugnisse durch zusätzliche Informationen und weiterführende Hinweise dazu, dass die Erinnerung Überlebender, die nicht immer ganz linear gesprochen wird, linearisiert wird: orientierte Erinnerung. Beide Prozesse werden erst durch die mediale Spezifik virtueller Zeugnisse in einem digitalen Archiv möglich.
Ziel des Beitrags ist es zu zeigen, wie entlang der Pole Orientierung und Desorientierung Muster der Erinnerung an die Geschichte der Shoah durch die mediale Spezifik der neuartigen virtuellen Zeugnisse im Spannungsfeld von Linearität und Fragmentarisierung neu auszutarieren sind. Um die Aushandlungsprozesse stabil beschreiben zu können, wird das digitale Archiv als ein Zwischenraum der Erinnerung konzipiert und somit an die zwischenräumliche Komponente der Virtualität rückgebunden.
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