panel 3b | 11.11.2011 | 10:00-11:30 | room 2 | german
(DES)ORIENTIERUNG JENSEITS
VON HOLLYWOOD

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ANDREAS BECKER (Frankfurt)
Unbestimmtheitsstellen in Yasujirô Ozus Filmen

Ausgehend von Roman Ingardens Begriff der Unbestimmtheitsstelle möchte ich danach fragen, inwiefern Erzähllücken (und deren Ergänzung) kulturspezifisch sind und dies exemplarisch an Yasujirô Ozus Filmen aufzeigen. Insbesondere interessiert mich dabei die Raumdarstellung und die Entwicklung der Charaktere, die eben nur durch Ergänzung dieser Leerstellen erschließbar werden. Dabei möchte ich zeigen, dass es eines bestimmten, meistens aus dem lebensweltlichen Alltag stammenden, Vorwissens bedarf, um diese Erzähllücken zu füllen. So ist es für eine interkulturelle Rezeption immer auch wichtig, dieses inexplizite Wissen zu versprachlichen, um eben jene für den "natural-viewer" selbstverständlichen Gegebenheiten zu erörtern. Und es geht auch darum, eben jene Aspekte überhaupt erst wahrnehmbar zu machen. Denn üblicherweise würde auf sie nicht aufgemerkt. Zwei mögliche Beispiele können zur Erörterung dienen. Die Raumdarstellung bzw. die Verschränkung von Räumen zu Beginn von Ozus Sôshun (Früher Frühling, 1956) und die Schlussszene von Banshun (Später Frühling, 1949), in der Noriko (Setsuko Hara) heiratet, man aber den Bräutigam nicht sieht. Ozu erwartet in beiden Fällen vom Zuschauer ein Vorwissen über die japanische Kultur und eine Kompetenz im Lesen von Zeichen, das intradiegetisch nicht vermittelt wird. Im Anschluss daran möchte ich kurz entwickeln, wie Edmund Husserls Konzept von Welt dazu dienen kann, die unterschiedlichen kulturellen Wissenshorizonte theoretisch zu beschreiben.

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SVEN PÖTTING (Köln)
Linea Sur - Eine Reise durch die lange Nacht Argentiniens

Das argentinische Kino erlebt seit einigen Jahren – so Filmwissenschaftlerin Deborah Shaw - eine "qualified success story." Die brutale und planmäßige Auslöschung von vermeintlich "subversiven Elementen" durch die von 1976 bis 1983 herrschenden, wechselnden Militärjuntas, der geschätzte 30.000 Personen zum Opfer fallen, die Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten im Rahmen der neoliberalen "Strukturanpassung" der 1990er Jahre sowie die Bewältigung der Folgen des Staatsbankrotts 2001/2002, sind die zentralen Themenkomplexe des sogenannten "Nuevo cine argentino" ("Neues Argentinisches Kino"). Man könnte bei oberflächlicher Betrachtung konstatieren, dass – quantitativ betrachtet – die Beschäftigung mit der "langen Nacht Argentiniens", wie der Historiker und Regisseur Osvaldo Bayer die Zeit der Militärdiktatur nennt, im Medium Film in den letzten Jahren nachgelassen hat. Schaut man sich die Werke genauer an, so kann man feststellen, dass sie in vielen Filmen vielmehr subtiler behandelt wird; indirekter: als Spur in der Gegenwart oder als Spur, Marke und Wunde in Körpern, Sprechweisen, Orten und materiellen Objekten.
Im Rahmen meines Vortrags, möchte ich Strategien der Desorientierung im "Neuen argentinischen Kino" in Filmen über die Militärdiktatur anhand konkreter Beispiele vorstellen.
1) Moebius (Regie: Regiekollektiv von Studenten der Universidad de Cine (FUC) von Buenos Aires, Gesamtleitung: Gustavo Mosquera, Produktionsjahr 1996). Unter dem Begriff der non-lieux (Nicht-Orte) fasst der französische Anthropologe Marc Augé die weithin abstrakten Räume zusammen, welche die gegenwärtige Welt immer stärker prägen, in denen man wohl oder übel immer mehr Zeit verbringt. Dazu gehören zunächst Verkehrsmittel, beziehungsweise Verkehrswege wie Hochgeschwindigkeitsbahnen, Autobahnen, Untergrundbahnen, sodann Wartebereiche wie Flughäfen, Hotelketten etc. Die Handlung von Moebius ist an einem solchen "Nicht-Ort" angesiedelt, im U-Bahn-Netz von Buenos Aires. Eine Bahn ist verschwunden. Alles deutet darauf hin, dass sie im erweiterten Streckennetz, das sich wie ein Möbiusband verhält, als Geisterzug umherirrt. Die hierdurch ausgelöste Suche in Bibliotheken und unterirdischen Gängen sowie die Aufhebung der Realität "an einem Punkt" stellt unweigerlich Bezüge zu den fantastischen Erzählungen von Jorge Luis Borges her. Gleichzeitig dringt die Geschichte in die Gegenwart. Samt der Bahn sind auch ihre Passagiere verschwunden. Sie enden als desaparecidos – Verschwundene – wie der Großteil der Diktaturopfer, deren Verbleib und exakte Zahl letztendlich nicht aufgeklärt werden kann, da betäubte Gefangene oder Leichen von Getöteten teilweise aus Frachtflugzeugen in den Atlantik geworfen worden sind.
Nebenbei bemerkt, lassen sich auch andere Werke, die in dieser Konferenz thematisiert werden, am treffendsten als "borgesianisch" bezeichnen, die also dem literarischen Kosmos des Schriftstellers Jorge Luis Borges zu entstammen scheinen. Als ein Beispiel ließe sich die narrativ komplexe Serie Lost nennen.
2) Los Rubios (Albertina Carri 2003) ist ein Hybrid zwischen Dokumentation und Fiktion, eine Reflexion über ein persönliches und kollektives Trauma, das aus der Militärdiktatur entstanden ist. Kunst, intellektuelles Spiel und Realität liegen dicht und untrennbar nebeneinander. Obwohl es in der argentinischen Literatur zahlreiche solcher "Spielformen der Wirklichkeit" gibt, in denen Realität fingiert wird, Information und Desinformation verschränkt sind (man denke zum Beispiel neben dem Oeuvre von Borges an Werke von Julio Cortázar, Alan Pauls oder Tomás Eloy Martínez) wird Los Rubios in der argentinischen Kritik aber fast ausschließlich als Dokumentarfilm gewertet, an den ein Authentizitätsanspruch gestellt wird. Unbeachtet bleiben interessanterweise die Strategien der Desorientierung, die bereits im Drehbuch angelegt sind, die sich in Erzählweise und Ästhetik des Films aufzeigen lassen, sich aber auch bis in den filmischen Epitext weiterverfolgen lassen.

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NELE UHL (Lüneburg)
Soweit ich mich erinnern kann. Diskontinuität der diegetischen Wirklichkeit in "Leolo" (1992) von Jean-Claude Lauzon.

Im Medium Film kam es in den letzten Jahrzehnten zu einem verstärkten Trend in Richtung Desorientierung der RezipientInnen. Das Spiel mit dem Zuschauer wurde von Filmen wie Fight Club, The Sixth Sense, Memento, A Beautiful Mind, Shutter Island u.a. auf die Spitze getrieben. Dabei liegt die Faszination gerade in dem Wechselspiel von Orientierung und Desorientierung. Den RezipientInnen wird eine erzählte Welt präsentiert, die ihnen Orientierung bietet, sie werden durch Diskrepanzen in der filmischen Erzählung desorientiert, um letzten Endes den Film als unzuverlässig, multiperspektivisch oder nicht-chronologisch erzählt zu entlarven und durch diesen Akt oder diese Erkenntnis wieder die Orientierung zurückzugewinnen.
Bemerkenswerterweise wurde bisher in der Diskussion um die Theorien des unzuverlässigen, komplexen, inkohärenten, nicht-chronologischen, multiperspektivischen Erzählens oder die possible worlds-Theorie nur selten ein Bezug zur filmischen Diegese hergestellt. Das ist insofern prekär, als dass es sowohl bei der filmischen Diegese, als auch bei den verschiedenen filmnarratologischen Konzepten, um die Orientierung der RezipientInnen geht. Durch die Diegesis, die filmische Erzählung, muss sich die Rezipientin eine möglichst detaillierte raumzeitliche Vorstellung der erzählten Welt, der Diegese, bilden, um sich in dieser orientieren zu können. Weiter ausdifferenziert kann innerhalb der Diegese eine diegetische Wirklichkeit ausgemacht werden, die vergleichbar mit unserer außerfilmischen Wirklichkeit ist und die raumzeitlichen Gesetzen unterliegt. Die angesprochenen filmnarratologischen Konzepte zielen darauf ab, die mentale Konstruktion der diegetischen Wirklichkeit zu unterwandern, um die RezipientInnen diesbezüglich zu desorientieren.
Bei genauerer Betrachtung der oben genannten Filmbeispiele stellt man fest, dass es sich immer um eine temporäre Desorientierung handelt, die spätestens am Ende des Films durch einen plot-twist aufgelöst wird. Das heißt, dass es den RezipientInnen letzten Endes immer möglich ist, die diegetische Wirklichkeit, das Zuverlässige im Film, zu konstruieren, an dem das Unzuverlässige dann gemessen werden kann.
Ausnahmen bilden dabei unter anderem einige Filme David Lynchs (Lost Highway, Mulholland Drive, Inland Empire – A Woman in Trouble) bei denen die Desorientierung auch nach Ende des Films weiter bestehen bleibt. Hier geht die Desorientierung noch einen Schritt weiter, indem es den RezipientInnen nicht mehr möglich ist, eine diegetische Wirklichkeit innerhalb des Films zu konstruieren. Durch eine unzuverlässige, inkohärente Erzählweise wird die erzählte Welt im Film in ihren Grundfesten angegriffen, was eine tiefer gehende, unauflösbare Desorientierung zur Folge hat.
Mein Beitrag zielt auf ebendiese Art der Desorientierung ab, die schon in einem frühen Beispiel, dem Film Leolo (1992) von Jean-Claude Lauzon, ausgemacht werden kann. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen dabei zum einen die drei Aspekte Zeit, Raum und Figuren, die, so das Plädoyer des Beitrags, in diesem Film für die Unmöglichkeit einer diegetischen Wirklichkeit wesentlich sind. Zum anderen liegt mein Fokus auf der Theorie des unzuverlässigen Erzählens und eng damit verbunden auf der possible worlds-Theorie, die sich anbieten, um sich dem Film hinsichtlich darauf wie er erzählt ist, zu nähern. Gerade in Bezug auf das Thema (dis)orientation spielt der Film Leolo eine wichtige Rolle, da es hier um eine subtilere und doch grundsätzlichere Art der Desorientierung geht. Hier wird kein Spiel mit dem Zuschauer gespielt. Zunächst verwirrt der Film nur auf Grund der vielen verstörenden Momente auf der Handlungsebene, gibt den RezipientInnen aber das Gefühl, den Film prinzipiell naturalisieren zu können. Erst bei mehrmaliger Rezeption eröffnen sich immer mehr unauflösbare Diskrepanzen auf allen Narrationsebenen des Films, die die Konstruktion einer diegetischen Wirklichkeit als unmöglich herausstellen.

 





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