Forschungsvorhaben Graf

Habilitationsschrift: Nationale Souveränität in einer Welt des Öls. „Petroknowledge“ und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren

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Von Rüdiger Graf

Das Buch "Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren" ist im November 2014 im Wallsteinverlag erschienen.

Zusammenfassung

Der exzeptionelle ökonomische Boom der Nachkriegsjahrzehnte, das „Golden Age“ (Eric Hobsbawm) oder die „Trente Glorieuses“ (Jean Fourastié) basierten nicht zuletzt auf der unbegrenzten und preisgünstigen Verfügbarkeit fossiler Energieträger. In den westlichen Industrieländern wurde die Kohle als Primärenergieträger abgelöst vom Öl, das zunehmend aus dem Mittleren Osten kam. Mit der Bedeutungssteigerung des Öls für das Funktionieren moderner, hochmobiler Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen und damit auch für die Legitimität liberal-demokratischer Staatsgebilde, die im Zeichen des Kalten Krieges auch von Wohlstandssteigerungen abhing, wuchs deren Verwundbarkeit durch Lieferunterbrechungen. Spätestens seit die Regierungen der sogenannten „Dritten Welt“ in den 1960er Jahren permanente Souveränität über ihre natürlichen Ressourcen forderten, begannen auch die OECD-Länder, ihre Abhängigkeit vom Öl intensiver zu reflektieren und nach Alternativen zu suchen. Das Ölembargo gegen die USA und die Niederlande bzw. die Produktionsbeschränkungen, die die arabischen Ölförderländer 1973/74 durchsetzte, sowie die gleichzeitigen Ölpreissteigerungen durch die Organization of Petroleum Exporting Countries (OPEC) verdeutlichten dann endgültig, dass Wachstum und Wohlstand in den westlichen Industrieländern eine Grundlage hatten, die ihre Regierungen nicht garantieren konnten.[1] Die erste Ölkrise bildete also eine zentrale Herausforderung für die Souveränität der Vereinigten Staaten, Westeuropas und Japans, zumal sie in eine Zeit fiel, als nationale Souveränität angesichts zunehmender ökonomischer Globalisierung, wachsender Bedeutung multinationaler Konzerne, aber auch internationaler Organisationen und Vereinbarungen ohnehin als gefährdet, wenn nicht gar als obsolete Kategorie angesehen wurde.

Die Lieferbeschränkungen stellten sowohl die Fähigkeit westlicher Regierungen in Frage, die Bewegung von Gütern und Menschen über Grenzen zu regulieren, als auch, insofern sie mit außenpolitischen Forderungen verbunden waren, ihre internationale Souveränität und sie berührten aufgrund der möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen zudem die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung.[2] Die Habilitationsschrift untersucht, wie die Regierungen in den USA, der Bundesrepublik und Westeuropa diese Herausforderung ihrer Souveränität und politischen Legitimität wahrnahmen und zu bewältigen suchten. Da die Ölkrise zwar durch die Handlungen von OPEC und OAPEC ausgelöst wurde, ihre Ursachen aber tiefer und nicht zuletzt in den Ölverbrauchssteigerungen der vergangenen Jahrzehnte lagen, beschränkten sich deren Strategien zur Souveränitätssicherung nicht auf außenpolitische und diplomatische Aktivitäten, sondern umfassten auch Umstrukturierungen der Energiesektoren sowie den Aufbau und die Reorganisation von Wissensstrukturen und Expertenstäben. Insofern souverän nur ist, wer als souverän anerkannt wird, und es sich bei „Souveränität“ also um eine soziale Kategorie handelt, ging es nicht nur um den Effekt der Maßnahmen zur Souveränitätssicherung, sondern immer auch um ihre Kommunikation in einem globalen medialen Ensemble.

Die internationale Ölwirtschaft und Ölpolitik bildete ein komplexes Kommunikations- und Interaktionssystem, in dem viele Akteure mit unterschiedlichen Möglichkeiten, den Fluss des Öls zu beeinflussen, in oft über Jahrzehnte etablierten Routinen interagierten. Anfang der 1970er Jahre schufen die Handlungen von OPEC und OAPEC, mit Niklas Luhmann gesprochen, einen Moment der doppelten Kontingenz, in dem die Beteiligten das Verhalten der Anderen und daher auch ihre eigenen Reaktionen nur schwer antizipieren konnten.[3] Um die Strategien und Verhaltensweisen in einer solchen Situation, die durch massive Unsicherheit gekennzeichnet ist, zu verstehen, müssen zunächst die jeweiligen Strukturen des ölbezogenen Wissens untersucht werden, die hier im Anschluss an den amerikanischen Politologen Timothy Mitchell als „Petroknowledge“ bezeichnet werden.[4] Denn dieses Wissen bestimmte, was in der sogenannten „ersten Ölkrise“ wie als Problem wahrgenommen wurde. Zugleich intensivierte fehlendes Petroknowledge die Krisenwahrnehmung, so dass die Bereitstellung energie- und ölbezogener Daten bzw. von Petroknowledge zu einem entscheidenden Element der Souveränitätsbehauptung wurde und das Petroknowledge selbst in der Ölkrise transformiert wurde. Die Arbeit verbindet also eine Wissensgeschichte des Öls nach 1945 mit einer Geschichte des energiepolitischen Handelns in Westeuropa und den USA.

In einem ersten Schritt (Kapitel 2) entwirft die Arbeit die Welt des Öls der 1950er und 1960er Jahre, das heißt die Bedeutungssteigerung des Öls, die kommunikativen Strategien der Ölindustrie und die sich ausbildenden Formen des Petroknowledge, um dann genauer danach zu fragen, ob und in welcher Form eine Konstellation wie die Ölkrise erwartet wurde. Dabei erweist sich die Standarderzählung, der zufolge die Ölkrise 1973/74 plötzlich über die westlichen Industrieländer hereinbrach und diese erst dann ihrer Abhängigkeit gewahr wurden und begannen, ihre Energiesektoren umzustellen, als falsch. Vermittelt durch das Öl-Komitee der OECD wurde die wachsende Verwundbarkeit vielmehr in allen Regierungen reflektiert und spätestens seit 1970 voll realisiert, als die US-Reserveproduk-tionskapazität rasant abnahmen. Die anschließenden Veränderungen im Energiebereich, die mit einer Bedeutungssteigerung von Energie als politischem Thema einhergingen, präfigurierten die Reaktionen auf die Ölkrise, die deshalb nicht ohne sie verstanden werden können. (Kapitel 3) Nichtsdestoweniger schufen erst die geschickt kommunizierte sogenannte arabische Ölwaffe bzw. die effektiv durchgesetzten Souveränitätsansprüche der OPEC- und OAPEC-Länder eine globale Konstellation der Kontingenz und Unsicherheit, in der Energie plötzlich in aller Munde war und auf den politischen Prioritätenlisten nach oben katapultiert wurde, so dass beschleunigte energiepolitische Umgestaltungen möglich und nötig wurden. (Kapitel 4)

Die Kapitel 5 und 6 konzentrieren sich auf die souveränitätspolitischen Strategien der US-amerikanischen und der Bundesregierung im Zeichen der Ölkrise, die zu einer Reorganisation der Energiesektoren führten und die Energiepolitikgestaltung bis in die Gegenwart beeinflussen. Analysiert werden jeweils die Herausbildung von Energie als eigenständiges politisches Handlungsfeld, die nationale Souveränitätskommunikation gegenüber der Bevölkerung und die Formierung oder Erweiterung von öl- und energiebezogenen Expertisen und Expertenstäben sowie ihr Einfluss auf die Politikgestaltung. Neben den nationalen stehen die internationalen Strategien im Vordergrund, durch öffentliche und diplomatische Kommunikation mit den Förder- wie auch den Verbraucherländern die eigene Souveränität zu behaupten und zu sichern. Insofern die Bundesregierung in die Europäische Politische Zusammenarbeit eingebunden war, spielen hier auch die europäischen Partnerländer, vor allem Frankreich, Großbritannien und die Niederlande eine zentrale Rolle.

Daran anschließend wird die internationale Perspektive noch einmal erweitert, indem die Konferenzen untersucht werden, auf denen im Gefolge der Ölkrise die Welt des Öls neu geordnet werden sollte. Auch wenn die meisten Regierungen argumentierten, aufgrund der komplexen globalen Interdependenzen, die durch die Ölkrise nur verdeutlicht worden seien, könne nationale Souveränität nicht mehr in Isolation, sondern nur noch in internationaler Kooperation gesichert werden, wäre es doch zu einfach, den zeitgenössischen Gegensatz von nationalen und internationalen Strategien einfach zu reproduzieren. Vielmehr schlossen diese einander nicht aus, sondern waren in vielfacher Weise miteinander verflochten. (Kapitel 7)

Die erste Ölkrise fungiert heute in historischen Erzählungen oft als Indikator für eine fundamentale Wende in der Geschichte der westlichen Industriegesellschaften. Sie markiert dann den Übergang von den Jahrzehnten des Booms zur wirtschaftlichen Misere, von einem Zeitalter anscheinend unbegrenzter Möglichkeiten zur Erkenntnis von Grenzen, von euphorischen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zu Erwartungen des Nieder- oder gar Untergangs, von der Vollbeschäftigung zur Massenarbeitslosigkeit und Stagflation, von der Idee rationaler Planung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse zu einer Ära des pragmatischen Krisenmanagements, von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft sowie von der Moderne zur Postmoderne.[5] Abschließend wird dieses Narrativ überprüft und in Frage gestellt, indem untersucht wird, wie die Ölkrise schon im unmittelbaren Diskurs in den Nachbardisziplinen in den 1970er Jahren diese ikonische Qualität erhalten konnte, das heißt, wie in den Politikwissenschaften die Ölkrise zum neuen Paradigma für die Analyse nationaler Souveränität und internationaler Politik wurde, wie Ökologie und Rohstoffe politischem Handeln Grenzen zu setzen schienen und neue hybride Formen des Expertenwissens politisch handlungsleitend werden sollten. Auf diese Weise leistet die Arbeit einen Beitrag zur Vermessung des nationalen Souveränitätsraums in Zeiten wirtschaftlicher Globalisierung, bedeutsamer werdender wissenschaftlicher Expertise und globaler medialer Kommunikation. Dabei zeigt sich, dass die Ölkrise nicht einfach in das gegenwärtig dominante Narrativ des Souveränitätsverlusts der Nationalstaaten durch wachsende wirtschaftliche Globalisierung bzw. des Souveränitätstransfers auf inter- und transnationale Organisationen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einzufügen ist. Vielmehr erscheint sie als ein Ort, an dem sich wesentliche Konfliktlinien der Zeit kreuzten und der fortan zur Legitimation unterschiedlicher souveränitätspolitischer Ansprüche herangezogen werden konnte.


Anmerkungen:


  1. [1] Zur ersten Ölkrise sowie zur Energiepolitik in den 1970er Jahren gibt es noch keine überzeugende Untersuchung in internationaler Perspektive. Siehe Ansätze bei Jens Hohensee: Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, Stuttgart 1996; Fiona Venn: The oil crisis, London 2002; Duco Hellema/Cees Wiebes/Toby Witte: The Netherlands and the Oil Crisis. Business as Usual, Amsterdam 2004; Karen R. Merrill: The Oil Crisis of 1973-1974. A Brief History with Documents, Boston/New York 2007.

  2. [2] Zur Unterscheidung von Westphalian, international legal, domestic und interdependence sovereignty siehe Stephen D. Krasner: Sovereignty. Organized Hypocrisy. Princeton, N.J. 1999, 3.

  3. [3] Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 2001, 148-190.

  4. [4] Timothy Mitchell: The Work of Economics. How a Discipline Makes Its World, in: European Journal of Sociology 46 (2005), 297–320.

  5. [5] Jean Fourastié: Les trente glorieuses ou La Révolution invisible de 1946 à 1975, Paris 1979; Eric J. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998; Bruce J. Schulman (Hg.): The Seventies. The Great Shift in American Culture, Society, and Politics, Cambridge/MA 2002; Tony Judt: Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005; Hartmut Kaelble: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007; Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Thomas Raithel: Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009; Niall Ferguson: The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge/MA 2010.




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