"Keine Angst vor Mathe", ein Beitrag von Katrin Schlusen, WDR Wissen vom 4.12.2010
"Achja, das hier war's", sagt Matthias, als er in seinen handschriftlichen Unterlagen die Seite gefunden hat, wo es um mathematische "Basiswechsel" geht. Er schaut auf die Zahlenreihen, aber was das bedeuten soll, kann er den drei anderen Studenten an seinem Tisch nicht erklären. "Was ist denn eine Basis?", fragt Christoph. "Vielleicht sollten wir erst mal das klären?" Die vier Studenten - alle im ersten Semester an der Ruhr Universität in Bochum und alle angehende Ingenieure - beginnen gemeinsam mit der Detektivarbeit. "Basiswechsel" ist nur einer von vielen komplizierten Begriffen, die sie in ihrer obligatorischen Mathevorlesung für Erstsemester gehört haben. "In dem Moment war das verständlich", sagt Christoph, aber nach der Vorlesung konnte er sich keinen Reim auf das Gesagte machen.
Durchfallquote liegt bei 20%
Fast alle an dem Vierer-Tisch hatten in der Schule gute Noten in Mathe. "In der Schule ist man einfach so durchgerutscht", sagt David. Jetzt im Studium funktioniert das nicht mehr: Sie besuchen zusammen mit 900 anderen Erstsemestern eine Mathevorlesung, die in nur einem Semester so viel Stoff vermitteln soll, für den man in der Schule zwei Jahre brauchen würde. Das Tempo ist rasant schnell. Nach Angaben der Universität fallen regelmäßig 20 Prozent durch die Mathe-Klausur durch. Dazu kommt, dass von den 900 Studenten überhaupt nur 750 an der Klausur teilnehmen. Warum die anderen zu Hause bleiben oder wie viele Studenten alleine wegen Mathe ihr Studium abbrechen, ist nicht bekannt. Die Ruhr Uni will jetzt gegen das schlechte Ergebnis ankämpfen: 120 Studenten bekommen in diesem Semester eine ganz besondere Nachhilfe.
Hilfe zur Selbsthilfe
David und die anderen Erstsemester an seinem Tisch nehmen an einer Art "Hilfe zur Selbsthilfe"-Kurs teil. Nur, dass sie das noch nicht wissen. "Mein Ziel ist es, dass ich bloß noch den Raum aufschließen muss", sagt Diplom-Mathematiker Michael Kallweit. Er betreut die Gruppe und versteht es, die Studenten so sehr zu motivieren, dass selbst der ärgste Mathemuffel danach ein paar Aufgaben rechnen mag. "Es gibt dieses Bild vom Mathematiker, der alleine in seinem Zimmer sitzt und mit niemandem redet - aber das stimmt nicht", man müsse über Mathe reden. Und dazu will er auch seine Studenten ermutigen. Die Teilnehmer können zudem ihre Hausaufgaben vor der wöchentlichen Abgabe an einem so genannten "Help Desk", was auf Deutsch so viel bedeutet wie "Hilfsschreibtisch", vorzeigen. Studentische Hilfskräfte schauen dann noch mal über die Antworten. Sie verbessern nicht, weisen aber auf Fehler hin.
"Ich hatte null Punkte"
Eine andere Gruppe testet ein neues Online-Lernbuch. Dazu gehört Christina Wienholz. Auch sie ist im ersten Semester und studiert Umwelttechnik. "Bei mir ist die Zwischenprüfung vor ein paar Wochen überhaupt nicht gut gelaufen", berichtet sie. "Ich hatte null Punkte." Schon vor dem Studium wusste sie, dass das Fach Mathe ein Problem werden könnte. "Ich dachte, ich hänge mich von Anfang an rein und dann klappt das schon." Jetzt benutzt die 20-Jährige das Online-Tagebuch. "Jeden Tag füllt man einen Fragebogen aus", erklärt sie. Sie muss eintragen, was sie an diesem Tag lernen möchte. "Dann setzt man sich wirklich dran und will das wirklich schaffen." Als zusätzlichen Anreiz für das regelmäßige Ausfüllen des virtuellen Tagebuchs dürfen die Nutzer vor der Klausur an einem dreiwöchigen Wiederholungskurs teilnehmen. "Dieses Projekt ist für mich ein Lichtblick", sagt sie.
Mehr Absloventen in den MINT-Fächern
Für das Konzept mit dem Titel "MP2" ist die Ruhr Uni vom Stifterverband und der Nixdorf-Stiftung ausgezeichnet worden. Zusammen mit einem Zuschuss von Rektorat stehen dem Projekt 300.000 Euro zur Verfügung: Das reicht für zwei Jahre. Die Geldgeber hoffen darauf, dass mit Mathe-Hilfe die Zahl der MINT-Absolventen erhöht werden kann. Das sind wie Christina Wienholz Studierende, die Fächer aus den Bereichen Mathematik, Natur- und Ingenieurswisenschaften belegen.
Kein unnötiger Studienabbruch
"Die Mathematik, die wir hier unterrichten, überfordert niemanden, der Abitur hat", sagt Mathe-Professor Herold Dehling. Es ist viel mehr die Menge des Stoffes in der kurzen Zeit, die den Studierenden zusetzt. Das Projekt soll unnötigen Studienabbruch vermeiden. Dabei wird genau Buch geführt, über den Erfolg der Teilnehmer. "Wir wollen untersuchen, ob eine zeitliche befristete Betreuung etwas bringt", erklärt er.
Klausur im März
Zurück am Gruppentisch von Matthias: Die Studenten sind schon einen kleinen Schritt weiter gekommen. "Einen Basiswechsel, das braucht man für verschiedene Koordinatendarstellungen", erklärt Matthias. Was soll das heißen? Schulterzucken. Hier ist noch viel zu tun bis zur Klausur im März.